Was geschehen war, konnten Melvin und Custis nicht ungeschehen machen. Sie konnten nur versuchen, weiteres Unheil zu verhindern. Deshalb waren sie unterwegs zu Quantrill.
Ein dunkelhaariger, schnurrbärtiger Mann trat vor und steckte den Revolver, den er in der Hand gehalten hatte, zurück ins Holster. Es war Arch Clement, auch Little Archie genannt, der in der Hierarchie der Schwarzen Brigade gleich nach Anderson und Todd kam. Man hätte ihn wohl als »First Sergeant« bezeichnet, wäre Quantrills Truppe eine reguläre Einheit gewesen.
»Was wollt ihr?« fragte er, ohne zu verhehlen, daß er keine großen Sympathien für die beiden Besucher hegte. Clement empfand es als Zumutung, an der Seite eines Negers reiten zu müssen. Und Hunter war der Mann, der für diese Zumutung verantwortlich war.
»Mit Quantrill sprechen«, antwortete Custis.
»Das geht jetzt nicht.«
»Warum nicht?«
»Offiziersbesprechung«, erklärte Clement mit einem leicht ironischen Unterton. Custis konnte sich vorstellen, was dieser Tonfall zu bedeuten hatte. Wahrscheinlich feierten Quantrill, Anderson und Todd ihren Sieg mit ein paar Flaschen von Armstrong Lawrences bestem Whiskey.
»Dann komme ich ja gerade recht«, meinte Custis und wollte sich an Little Archie vorbei schieben. »Mit den Offizieren wollte ich schließlich sprechen.«
Der Schnurrbärtige packte den Blonden fest an der Schulter und hielt ihn zurück. »Halt, Hunter! Niemand betritt das Haus ohne Quantrills Erlaubnis!«
»Dann geh rein und frag ihn, ob wir hereinkommen dürfen«, schlug Custis vor. »Aber sag dem Captain, es ist dringend!«
»Also gut«, meinte Clement nach kurzem Überlegen und wandte sich an seine Männer. »Solange ich im Haus bin, sorgt ihr dafür, daß die beiden sich nicht von der Stelle rühren!« Little Archie drehte sich um, marschierte auf das hell erleuchtete Gebäude zu und betrat es über die breite Treppe, die zu dem terrassenartigen, überdachten Eingang führte. Rechts und links neben der Eingangstür standen zwei mit Karabinern bewaffnete Wächter.
Gespannt blickten Custis und Melvin Clement nach. Weshalb war er so mißtrauisch? Hatte er etwas gemerkt? Oder spürte er, daß sich die beiden Starcrest-Männer von der Schwarzen Brigade losgesagt hatten?
Es dauerte keine fünf Minuten, bis Clement mit griesgrämigem Gesichtsausdruck zurückkehrte. »Du kannst zu Quantrill, Hunter.«
Der Blonde grinste entwaffnend. »Ich wußte es doch.«
Als er und Melvin sich in Richtung Haus in Marsch setzten, sagte Little Archie laut: »Nur du, Hunter. Von deinem schwarzen Freund war nicht die Rede.«
Custis und Melvin wechselten einen kurzen, einverständigen Blick miteinander, und der Weiße sagte: »Warte hier auf mich, Melvin. Ich schätze, es wird nicht lange dauern.«
Clement führte Custis ins Haus und dort in einen großen, zu ebener Erde gelegenen Salon, der in seiner Pracht ein Spiegel von Armstrong Lawrences Reichtum und seines erlesenen Geschmacks war. Zwei Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt. Custis erkannte sofort, daß es gute Bücher in erlesenen Aufmachungen waren. Eine der gewaltigen Regalwände schien nur mit Erstausgaben gefüllt zu sein. An den freien Wänden hingen Gemälde holländischer Meister, die man an der Grenze zwischen Missouri und Kansas nicht häufig fand. Die strahlende Helligkeit, die den Salon erfüllte, kam von einem gigantischen, golden glänzenden Lüster, der unter der Decke hing und in dem mindestens hundert Kerzen brannten. Vergleichbaren Prunk fand man in Blue Springs allenfalls noch im Cordwainer-Haus.
In den samtbezogenen Polstersesseln hatten es sich William Quantrill, Bill Andersen und George Todd bequem gemacht.
Andersons Füße lagen auf einem kleinen Glastisch, und die großen Sternsporen an seinen schmutzverkrusteten Stiefeln zerkratzten die empfindliche Platte; jedesmal, wenn er die Füße bewegte, ratschten die Sporenspitzen mit einem häßlichen Kreischen über das Kristallglas. Aus dem Bartgestrüpp um seinen Mund lugte der qualmende Stummel einer teuren Henry-Clay-Zigarre hervor, schon so weit niedergebrannt, daß der wuchernde Bart jeden Augenblick Feuer zu fangen drohte. In einer Hand hielt er lässig eine Whiskeyflasche, die er hin und wieder zum Mund führte, ohne den Zigarrenstummel herauszunehmen.
Neben ihm saß George Todd mit lang unter den Glastisch gestreckten Beinen und geschlossenen Augen und zog genüßlich an einer Henry Clay. Vor ihm auf dem Tisch standen eine halbleere Bourbonflasche, mehrere Gläser und eine offene, elfenbeinbeschlagene Kiste mit den 35-Cent-Zigarren.
Quantrill war der einzige Mann in dem Salon, der keinen entspannten Eindruck machte. Er saß mit konzentriertem Gesichtsausdruck etwas abseits in einem Ohrensessel und hatte eine Kladde auf den Knien liegen, in die er ab und zu etwas mit einem Kohlestift eintrug.
Als Clement und Custis eintraten, schaute er gerade auf und sagte zu Anderson: »Du solltest den Whiskey nicht in dich reinschütten, als sei es Wasser, Bill. Für das, was noch vor uns liegt, brauchen wir klare Köpfe.«
Bloody Bill spuckte den noch brennenden Rest seiner Zigarre im hohen Bogen durch den halben Raum. »Mach dir um mich keine Sorgen, Captain. Eine Flasche haut Bill Anderson nicht um. Ich habe den ganzen Tag gekämpft und bin durch den Kugelhagel dieser verdammten Jayhawkers geritten. Jetzt will ich auch etwas von unserem Sieg haben. Schlimm genug, daß wir uns nicht so austoben können wie sonst.«
»Wenn die Stadt aussieht wie ein Schlachtfeld, können wir unseren Plan vergessen«, erwiderte Quantrill. »Wenn wir hier alles erledigt haben, könnt ihr mit Blue Springs machen, was ihr wollt. Aber nicht eher!«
»Was für ein Plan?« fragte Custis, der schräg hinter Quantrills Sessel stand.
Der Captain beugte sich vor und drehte sein täuschend unschuldiges Gesicht zu ihm herum. Seine blauen Augen leuchteten auf. »Ah, Custis. Schön, daß du kommst, um den Sieg mit uns zu feiern.«
Als Arch Clement gehen wollte, sagte Quantrilclass="underline" »Bleib ruhig hier, Archie. Unser spendabler Bankier hat genug Vorräte für uns alle gehortet.« Er zeigte auf den Tisch: »Bedien dich! Das gilt auch für dich, Hunter.«
Clement fingerte eine Zigarre aus der Kiste, biß die Spitze ab und spuckte sie in eine Ecke, entflammte ein Zündholz an einem Bücherregal und schmauchte dann genüßlich die Henry Clay.
Aber Custis bediente sich weder bei den Zigarren noch beim Whiskey. Er wollte sich einen kühlen Kopf bewahren, sich durch nichts ablenken lassen.
»Ich möchte mit Ihnen übers Geschäft sprechen, Captain«, machte Custis unmißverständlich seinen Standpunkt klar und trat um Quantrills Sessel herum.
Der Guerillaführer legte die Stirn in Falten. »Über das Geschäft? Wir sind keine Kaufleute, Hunter, wir sind Soldaten. Soldaten, die heute einen großen Sieg errungen haben, an dem du nicht ganz unbeteiligt bist. Darauf solltest du stolz sein, Junge.« Junge! Der Ausdruck hallte lange in Custis nach. Quantrill mochte Mitte Zwanzig sein, vielleicht ein oder zwei Jahre älter. Jedenfalls kaum älter als Custis, den er herablassend als »Junge« bezeichnete.
»Ich möchte wissen, weshalb wir in Blue Springs sind«, beharrte der Sohn des ermordeten Plantagenbesitzers.
»Um es diesen verfluchten Jayhawkers zu zeigen!« dröhnte Anderson über den Tisch und nahm seine Stiefel mit einem langgezogenen, gänsehauterzeugenden Kreischen von der Glasplatte. »Und das haben wir, wenn ich mich in der Stadt so umsehe.«
»Aber das ist doch nicht alles«, meinte Custis, den Blick auf Quantrill gerichtet. »Sie haben doch noch mehr vor, Captain. Sie sprachen eben von einem Plan.«
»Das stimmt«, antwortete Quantrill mit einem verschwörerischen Grinsen, beugte sich erneut vor und füllte ein Glas bis zur Hälfte mit dem edlen Kentucky-Bourbon aus Armstrong Lawrences Beständen. Nachdem er einen Schluck genommen hatte, fuhr er fort: »Die Eroberung von Blue Springs ist nicht das Ziel unseres Raids gewesen, sondern nur eine Etappe. Der wichtigste Schlag erfolgt morgen mittag, wenn der erste reguläre Zug auf der neuen Bahnstrecke nach Kansas City hier eintrifft. Wir werden brave Bürger spielen und den Zug mit Beifall willkommen heißen. Aber sobald er im Bahnhof ist und die Räder stillstehen, schlagen wir zu!«