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»Das ist zu gefährlich und dauert zu lange«, widersprach Custis. »Außerdem läßt Quantrill die Pferde und die Stadtausgänge gut bewachen.«

»Und was läßt er nicht gut bewachen?« fragte Hickok.

Custis' Antwort verblüffte ihn: »Den Bahnhof.«

Dann erklärte ihnen Custis seinen Plan.

»Das ist verrückt«, meinte Byron Cordwainer, als Custis geendet hatte.

»Ja«, pflichtete ihm Hickok bei. »Aber es ist eine Chance, Quantrills Plan zu vereiteln!«

*

Die Gruppe, die kurz darauf durch die dunklen Straßen in Richtung Bahnhof schlich, zählte elf Männer: Custis Hunter und Melvin, Jacob und Martin, Jim Hickok, Avery Cordwainer und seine beiden Söhne, der Hufschmied Brock Haley, Armstrong Lawrence und der Polizeichef von Blue Springs, Sheriff Amos Haggen.

Der Sheriff war ein kantiger Mittfünfziger, dessen schütteres Haar während seiner langen Dienstjahre ergraut war. Er gehörte zu den vielen, die während der Abwehrschlacht gegen die Guerillas verwundet worden waren, zweimal sogar: Eine Kugel hatte seinen Schädel gestreift und eine blutige Furche durch den Haaransatz auf der linken Seite gezogen, und das zweite Stück Blei hatte Dr. Hatfield aus seinem linken Oberschenkel operiert, weshalb Haggen stark humpelte. Aber er biß die Zähne zusammen und bemühte sich, nicht hinter den anderen zurückzubleiben. Zum Glück war es nur eine Fleischwunde gewesen, die sein Bein nicht weiter in Mitleidenschaft zog.

Die neun befreiten Gefangenen hatten die Waffen der überwältigten Wächter an sich genommen. Hickok hatte sich fast wie ein Kind zu Weihnachten gefreut, als er bei einem der bewußtlosen Bushwackers seine beiden Navy Colts gefunden hatte, die jetzt wieder an ihrem alten Platz in seiner Brustschärpe steckten.

Die Wachtposten lagen gefesselt und geknebelt in dem Stall, in dem zuvor die Gefangenen eingesperrt gewesen waren. Der schwere Riegel war vor das Tor geschoben. Es würde hoffentlich eine Weile dauern, bis sich die Bushwackers befreien konnten oder bis das Fehlen der Wächter in der Dunkelheit bemerkt wurde. Wenn nicht, fiel der Plan der kleinen Gruppe ins Wasser. Sie brauchten diese Zeit, waren auf jede Minute angewiesen.

Deshalb hatten sie es auch unterlassen, weitere Bürger zu Hilfe zu rufen und die Frauen im Cordwainer-Haus zu unterrichten oder gar mitzunehmen. Auch wenn Jacob, Martin, Custis und Avery Cordwainer ein ungutes Gefühl dabei hatten, Irene, Virginia und Abigail Cordwainer in der Gewalt der unberechenbaren Guerillas zurückzulassen, sie mußten einsehen, daß Hickok recht hatte, als er sagte: »Wir können am meisten für die Frauen und die anderen Leute in Blue Springs tun, wenn wir möglichst schnell zum Bahnhof kommen. Jede Minute, die wir verlieren, kann zu unserer Entdeckung führen, und dann ist alles vorbei!«

Aber die Hilfe eines Mannes benötigten sie doch: Nelson Tucker. Sein Haus war ihr erstes Ziel.

Sie waren noch nicht weit gegangen, als Armstrong Lawrence plötzlich stehenblieb und sich mit dem Rücken gegen eine Hauswand lehnte. Das schwache Licht, das Mond und Sterne durch den wolkenverhangenen Himmel schickten, genügte, um die unnatürliche Blässe auf dem faltigen Gesicht des Bankiers erkennen zu lassen. Er riß den Mund weit auf und atmete heftig und stoßweise, als wäre er kurz vor dem Ersticken.

»Was haben Sie?« fragte Hickok besorgt.

Lawrence riß seinen Hemdkragen auf und keuchte: »Ich glaube, die Aufregungen sind zuviel für mich. Doc Hatfield hat mir schon vor einem halben Jahr gesagt, daß ich ein schwaches Herz habe. Es ist besser für alle, wenn ich nicht weiter mitgehe.«

Byron Cordwainer sah ihn scharf an. »Das geht nicht, Armstrong. Wenn die Bushwackers Sie in der Stadt sehen, ist unsere Flucht verraten. Sie müssen weitergehen!«

Lawrence starrte Cordwainer an, als hätte dieser gerade sein Todesurteil verkündet. »Byron, ich kann nicht!«

»Sie müssen, verdammt!«

Jacob zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo die Stallung eines Fuhrunternehmens lag. »In dem Stall dort drüben könnte Mr. Lawrence sich verstecken und ausruhen. Er darf sich erst fortbegeben, wenn wir die Stadt verlassen haben.«

»Eine gute Idee«, befand Hickok und entschied: »So machen wir es!«

Die restlichen zehn Männer setzten ihren Weg fort, während der Bankier in dem Stall verschwand.

»Wohin müssen wir jetzt?« fragte der an der Spitze der Gruppe gehende Hickok, als sie das Ende der Straße erreichten.

»Nach rechts«, antwortete Sheriff Haggen. »Nelson Tucker wohnt in dem windschiefen, schmalen Haus auf der rechten Seite, neben dem Barbier.«

»Wir sollten uns aufteilen«, schlug Byron Cordwainer vor. »Eine Gruppe könnte schon zum Bahnhof gehen und alles vorbereiten.«

»Zu gefährlich«, lehnte Hickok, der kraft einer natürlichen Autorität die Führung übernommen hatte, ab. »Zwei Gruppen können leichter entdeckt werden als eine. Wir bleiben zusammen.«

Er wandte sich nach rechts und tat so, als bemerkte er Cordwainers stechenden Blick nicht, der sich in seinen Rücken bohrte. Der Major spürte, daß ihm alles, was er sich in vielen Jahren aufgebaut hatte, zu entgleiten begann.

Er löste seinen Blick von dem Kundschafter und starrte haßerfüllt den hinter Hickok gehenden Custis Hunter an. Mit ihm war das Verhängnis nach Blue Springs gekommen. Der Sohn des Plantagenbesitzers und Vater von Virginias Sohn hatte Quantrill hergeführt. Byron Cordwainer haßte Custis Hunter mehr als alles andere auf dieser Welt.

Es begann leicht zu regnen, als sie in die Straße einbogen, aber das konnte den zehn Männern nur recht sein. Je schlechter die Sicht, desto größer standen die Chancen, daß sie den Bahnhof erreichen und ihren Plan verwirklichen konnten.

Sie hatten Nelson Tuckers Haus fast erreicht, als sie Stimmen vor sich hörten, die sich über das Wetter beschwerten. Stiefeltritte hallten von einem der Boardwalks, der hölzernen Bürgersteige, wider.

»Eine Patrouille«, erkannte Custis Hunter sofort und sah sich suchend um. Auf der anderen Straßenseite sah er eine Gasse, so schmal, daß ihr Eingang in der Dunkelheit kaum erkennbar war. Vielleicht würde ihn die Streife nicht bemerken.

»Dorthin, in die Gasse!« wisperte Custis und huschte auch schon geduckt über die schlammige Straße.

Die anderen folgten ihm. Die Gasse zwischen zwei doppelstöckigen Häusern, einem Hotel und einem General Store, war so eng, daß kaum zwei Männer nebeneinander gehen konnten. Abfälle stanken bestialisch und zwangen die Männer, durch den Mund zu atmen. Am schlimmsten aber war, daß es sich um eine Sackgasse handelte, die vor den massiven Brettern eines anderen Hauses einfach endete. Offenbar war dieser Zwischenraum nur entstanden, weil es der Besitzers des Hotels und der des Ladens aus irgendeinem Grund versäumt hatten, ihre Häuser Wand an Wand zu bauen. Die zehn Männer standen so dicht aneinandergedrängt wie in einer Sardinendose, konnten sich kaum rühren und nirgendwohin entkommen. Falls sie von der Patrouille entdeckt wurden, brauchten die Bushwackers nur in die Gasse hineinzuschießen; sie würden auf jeden Fall jemanden treffen.

Gewiß, falls es sich bei den Männern, die sie gehört hatten, um eine der Drei-Mann-Streifen handelte, wäre es nicht schwer gewesen, sie zu überwältigen. Aber wenn dabei auch nur ein einziger Schuß gefallen wäre, hätte das ihren Plan zunichte gemacht.

Hickok, der am weitesten zur Straße hin stand, hatte seine Navy Colts gezogen und starrte zum Eingang. Er und seine Begleiter hielten den Atem an, als die Schritte und die Stimmen ganz nah waren.

Die Schemen der drei Bushwackers zogen auf der gegenüberliegenden Straßenseite an ihnen vorüber. Wenn sich Jacob nicht sehr täuschte, erkannte er die große schlanke Gestalt von Frank James.