Martin blieb vor der Kirche stehen und lauschte der Stille, die über der Stadt lag und die ihm nach dem Feuergefecht unwirklich vorkam, beinah überirdisch. Aber sie paßte zu dem Ort. Blue Springs war eine aufstrebende Stadt, der selbst die unermüdlichen Regengüsse der letzten Tage nicht den Anschein von Ordentlichkeit und Sauberkeit hatten nehmen können. Kürzlich erst war die Eisenbahnstrecke nach Kansas City fertiggestellt worden, und jetzt warteten die Bürger auf den Beginn des regulären Bahnverkehrs und die Reisenden, die in ihrer Stadt absteigen und ihr Geld dort lassen würden.
Martin und seine Freunde Jacob Adler und Irene Sommer hatte es eher zufällig hierher verschlagen. Mit einem Dampfschiff waren sie von St. Louis aus den Missouri hinaufgefahren, um sich in Kansas City einem Oregon-Treck anzuschließen. Aber das tagelange, pausenlose Unwetter hatte eine Weiterfahrt unmöglich gemacht. Deshalb hatte der Kapitän alle Reisenden an Land setzen lassen, wo sie ein Wagenzug nach Blue Springs bringen sollte, um von dort aus mit der Eisenbahn nach Kansas City zu fahren. Der Wagenzug war von Quantrills Bande angegriffen worden, die es auf Blue Springs abgesehen hatte und verhindern wollte, daß die Bürger der Stadt Verstärkung erhielten.
Die Reisenden waren zwar durchgekommen, aber Martin fragte sich, ob das an ihrem Schicksal etwas änderte. Sie waren zusammen mit den Bürgern der Stadt in Blue Springs eingeschlossen, ohne Hoffnung auf Rettung.
Er dachte an den jungen Peterson, den besten Reiter der Stadt, der in der Nacht ausgesandt worden war, um Hilfe aus der Garnison von Kansas City zu holen. Quantrill hatte ihn erwischt und mit einem Ultimatum, das die Aufforderung zur bedingungslosen Kapitulation enthielt, in die Stadt zurückgeschickt. Die Aufforderung steckte an einem Messer, das in Petersons Brust gerammt worden war. Den toten Kurier hatten die Bushwackers auf seinem Pferd festgebunden. Jetzt lag Peterson in einem Nebenraum der Kirche aufgebahrt, und Mary Calder, seine junge Verlobte, trauerte um ihn.
Und in Kansas City wußte man nichts über die verzweifelte Lage, in der sich Blue Springs befand.
Auch telegrafisch hatte man keine Hilfe anfordern können. Alle Verbindungen waren unterbrochen. Wahrscheinlich war das ebenfalls Quantrills Werk.
Mit langsamen Schritten, die frische, ein wenig nach Pulverrauch und Tod schmeckende Luft dieses ersten regenlosen Morgens seit vielen Tagen aufsaugend, ging der stämmige Deutsche durch die leeren Straßen der wie ausgestorben wirkenden Stadt. Sein Ziel lag im vornehmen Südteiclass="underline" das Haus der Cordwainers, wo er und seine Freunde Unterkunft gefunden hatten. Hier wollte er sich ein wenig ausruhen. Sein verletzter Arm schmerzte so heftig, daß Martin für eine Weile als Schütze nicht zu gebrauchen war.
Wenn er länger auf die Fenster der verriegelten und teilweise verbarrikadierten Häuser sah, bemerkte er zuweilen ein Augenpaar oder zumindest das Flattern der Vorhänge. Alte, Frauen und Kinder warteten ängstlich auf den Ausgang des Kampfes, der über das Schicksal der Stadt und ihrer Bewohner entscheiden würde. Wie Quantrills Männer mit eroberten Städten umgingen, war allgemein bekannt. Häuser wurden abgebrannt, Männer erschossen und Frauen vergewaltigt. Nicht in alle Fenster konnte er blicken. Viele, besonders die zu ebener Erde gelegenen, waren mit Brettern vernagelt.
Es war ein langer, beschwerlicher Weg, der den norddeutschen Bauernsohn nach Amerika geführt hatte. Martin fragte sich, ob er hier zu Ende war.
Die Wohnhäuser wurden größer, pompöser und waren von kleinen Parks umgeben, als er ins südliche Viertel kam. Hier lebten die wohlhabenden Familien, wie die Cordwainers und die Lawrences.
Sie bestimmten, was in Blue Springs geschah. Sie sorgten dafür, daß alle Bürger der Stadt auf der Linie der Sklavereigegner waren. Und doch waren fast alle Bediensteten, die Martin bislang hier gesehen hatte, Schwarze.
Dieses Land Amerika war ebenso seltsam wie groß.
Seine Bewohner fochten einen gnadenlosen Bruderkrieg untereinander aus, in dem es nicht zuletzt um die Frage der Sklavenbefreiung ging. Und doch duldeten die Nordstaaten, die für die Abschaffung der Sklaverei eintraten, in ihren Reihen Staaten, in denen Sklaverei erlaubt war. Der Staat Missouri, an dessen westlichem Rand Blue Springs lag, war solch ein Staat.
In einer Zeitung auf dem Flußdampfer PRIDE OF MISSOURI hatte Martin die Proklamation gelesen, mit der Abraham Lincoln, Präsident der Nordstaaten, die Sklaven in den Konföderierten Staaten für frei erklärt hatte. Darin hatte es geheißen:
»Daß am ersten Tag des Januar unseres Herrn 1863 alle Personen, die in einem Staat oder bestimmten Teil eines Staates, dessen Bewohner zu der Zeit in Aufruhr gegen die Vereinigten Staaten sind, von der Zeit und für immer frei sein sollen, und die vollziehende Staatsgewalt der Vereinigten Staaten mit Einschluß der Militär- und Marinegewalt die Freiheit solcher Personen anerkennen und erhalten wird und nichts tun wird, um solche Personen oder eine von ihnen in ihren Bemühungen für ihre tatsächliche Freiheit zu hindern.«
Die Schwarzen in den sklavenhaltenden Staaten des Nordens waren nicht davon betroffen. Sie blieben weiterhin Sklaven.
Mitreisende auf dem Schiff hatten das Martin gegenüber als einen politischen Schachzug Lincolns bezeichnet. Der Präsident durfte Staaten wie Missouri nicht verprellen, wollte er verhindern, daß sie Partei für die Konföderation ergriffen. Später, wenn der Krieg gewonnen und die Sklaven in den Südstaaten freie Menschen waren, würden die übrigen Sklavenstaaten mitziehen müssen, denn das System der Sklaverei würde sich dann überlebt haben.
Vielleicht stimmte das. Martin jedenfalls hatte Vertrauen zu Abraham Lincoln.
Er hatte diesen großen Mann, auf dessen breiten Schultern eine ungeheure Verantwortung lastete, persönlich kennengelernt, als er und Jacob dabei geholfen hatten, die Entführung des Präsidenten durch Quantrills Guerillas zu verhindern.
Lincolns zerfurchtes, gütiges, weises und stets zu einem humorvollen Lächeln fähiges Gesicht stand so deutlich vor seinem inneren Auge, als sei dieses Zusammentreffen erst gestern erfolgt. Er spürte, daß dieser Mann nur das Beste für sein Land und dessen Bewohner wollte, auch wenn Martin nicht alle Winkelzüge der großen Politik verstand. Er wünschte Lincoln Glück und Erfolg für seinen schweren Kampf.
Das große weiße Herrenhaus der Cordwainers lag ebenso verlassen vor ihm wie alle übrigen Gebäude der verängstigten Stadt. Auch hier waren die zu ebener Erde liegenden Fenster vernagelt.
Martin schritt über den breiten Kiesweg und stellte ohne Erstaunen fest, daß die Tür verschlossen war. Er zog heftig an der Klingelschnur.
Als er über sich ein Geräusch hörte, blickte er hoch. Ein nicht vernageltes Fenster im ersten Stock war geöffnet worden. Clyde, der grauhaarige schwarze Butler schaute heraus.
»Einen Moment, Mr. Bauer!« rief er, als er Martin erkannte. »Ich öffne Ihnen gleich!«
Clyde verschloß das Fenster wieder sorgfältig und kam die Treppe herunter. Martin hörte, wie er einen schweren Riegel zurückzog, bevor er die Haustür öffnete.
Der Butler stand nicht allein in der Türöffnung. Hinter ihm starrten Avery und Abigail Cordwainer den Deutschen fragend an. Der Bürgermeister von Blue Springs hielt, ebenso wie sein Butler, einen Karabiner in der Hand.
»Was ist geschehen?« wollte der alte Cordwainer wissen. »Haben wir Quantrill geschlagen?«
»Zurückgeschlagen ist wohl der passendere Ausdruck«, meinte Martin, als er eintrat. »Seine Männer haben sich an unseren Barrikaden blutige Köpfe geholt. Aber ich bin ziemlich sicher, daß es noch nicht vorbei ist.«
»Wieso nicht?« fragte die Frau des Bürgermeisters. »Was können diese Banditen nur von uns wollen?«