Als Schritte und Stimmen leiser wurden, winkte Hickok den anderen, ihm zu folgen und die Gasse wieder zu verlassen.
»Vielleicht sollten wir warten, bis die Entfernung zu der Patrouille größer ist«, meinte Custis.
»Wir haben keine Zeit zu verschenken«, erwiderte Hickok nur, schlich auf die Straße hinaus, sah sich nach allen Seiten um und winkte den anderen erneut, als er festgestellt hatte, daß die Luft rein war.
Vor Nelson Tuckers Häuschen hielten die Männer an, und Sheriff Haggen zog mehrmals an der Klingelschnur, bis endlich über ihnen ein kleines Fenster aufgerissen wurde.
Tucker streckte sein spitzes, von einem großen grauen Schnauzbart beherrschtes Gesicht heraus und krächzte verschlafen: »Was zur Hölle...« Verwundert wanderte sein Blick über die Männer unter seinem Fenster. »Was hat der Aufzug zu bedeuten? Ich dachte, Quantrill hätte euch alle festgesetzt!«
»Das hatte er auch«, sagte Haggen.
»Und er wird es wieder tun, wenn Sie weiter so durch die Nacht brüllen, Nelson. Seien Sie leise und lassen Sie uns schnell herein, verflucht!«
Als sie sich endlich in Tuckers Haus drängten, erklärten sie ihm ihren Plan.
»Weil sich niemand von uns mit diesem Ding auskennt, sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen, Nelson«, schloß der Sheriff den kurzen Vortrag.
»Das ist verrückt«, murmelte Tucker kopfschüttelnd. »Ich bin Stationsvorsteher, kein Lokführer.«
»Aber Sie kennen sich mit Lokomotiven aus!« beharrte Haggen.
»Ja, vor vielen Jahren war ich für kurze Zeit Lokführer. Allerdings war die Lok ein viel älteres Modell.«
»Sie müssen es versuchen, Nelson«, sagte der Sheriff eindringlich. »Vielleicht hängt das Überleben der ganzen Stadt von ihrer Hilfe ab!«
»Also gut«, seufzte der Stationsvorsteher von Blue Springs, während er sich hastig anzog. »Schließlich bin ich Witwer und habe keine Kinder. Niemand wird mich vermissen, wenn die Sache schiefgeht.«
Eilig verließ er mit den anderen sein Haus, um den Weg zum Bahnhof einzuschlagen.
*
Armstrong Lawrence hatte das Gefühl, er müßte jeden Augenblick ersticken. Er saß in dem dunklen, fensterlosen Stall auf dem Boden, den Rücken gegen ein großes Faß mit Wagenschmiere gelehnt, und hatte sein ehemals weißes, jetzt schmutziggraues Hemd bis zum Bauchnabel aufgerissen. Er lehnte den Kopf nach hinten und versuchte, ruhig zu atmen.
Aber alles half nichts. Es ging ihm einfach nicht besser, sondern immer schlechter. Lichtflecke explodierten vor seinen Augen wie ein Regen von Sternschnuppen. Obwohl er nichts sah, hatte er das Gefühl, um ihn herum drehe sich alles. Und obgleich er den Mund weit aufriß, bekam er fast keine Luft mehr.
Er hielt es nicht länger aus. Er benötigte Hilfe. Er wollte nicht sterben!
Mühsam zog er sich an dem Faß hoch. Daß er dabei seine Hände dick mit Schmiere überzog, war dem Bankier gleichgültig. Er bemerkte es nicht einmal.
Mit letzter Kraft wankte er in die Richtung, wo er das Tor vermutete. Aber es war nur die Wand. Der Schwindel, der ihn zu überwältigen drohte, hatte ihm die Orientierung geraubt. Seine mit Schmiere bedeckten Händen rutschten an dem rauhen Holz ab wie an glattem Glas, und Lawrence fiel auf die Knie.
Ein, zwei Minuten hockte er so, wie ein Tier auf vier Beinen, auf dem kalten Boden, nur damit beschäftigt, nicht zu ersticken. Als er ein wenig mehr Luft bekam und der Schwindel etwas nachließ, kroch er auf allen Vieren an der Wand entlang, bis er endlich das Tor fand, sich unter Aufbietung seiner letzten Kräfte an dessen Eisengriff hochzog, es aufstieß und nach draußen auf die Straße taumelte.
Dort fiel er in den Schlamm, drei überraschten Männern fast vor die Füße.
Die drei Männer brachten ihre Waffen in Sekundenschnelle in Anschlag, richteten sie auf den Bankier und auf das halb offene Stalltor, bevor sie langsam und vorsichtig nähertraten.
Lawrence schaute auf und in ihre Gesichter, die ihm bekannt vorkamen. Ja, es waren drei der Bushwackers, die seine Bank ausgeraubt hatten. Ihre Namen kannte er nicht, wußte nicht, daß sie Frank James, Jesse James und Cole Younger hießen.
Für Lawrence zählte jetzt nur, daß es Menschen waren. Menschen, die ihm helfen, die sein Leben retten konnten.
Er streckte ihnen eine Hand entgegen und flüsterte, dabei schwer atmend: »Bitte. helfen Sie mir.«
Cole Younger ließ seinen Karabiner sinken, als er den Mann erkannte, der vor ihnen im Dreck lag. »He, das ist der Bankier! Er scheint Sehnsucht nach uns zu haben. Vielleicht hat er noch mehr Geld, daß er uns anvertrauen will.«
Sein Lachen klang fast angenehm, was daran lag, daß Thomas Coleman Younger seinem ganzen Wesen nach eine angenehme Ausstrahlung besaß. Eine täuschend angenehme Ausstrahlung. Täuschend tödlich für so manchen.
»Das Geschäft in der Bank war nicht schlecht«, meinte Jesse James, der die Mündung seines Karabiners weiterhin auf das geöffnete Tor zielte. »Ich würde gern noch mehr solcher einträglichen Geschäfte machen. Aber der Bankier wird kaum deshalb hier sein.«
»Nein«, sagte sein vier Jahre älterer Bruder und spuckte den Priem, den er während der Patrouille in seinem Mund hin und her geschoben hatte, im weiten Bogen auf die Straße. »Wenn mich nicht alles täuscht, dürfte er gar nicht hier sein. Er gehört doch zu den Männern, die Quantrill eingesperrt hat, drüben im Cordwainer-Haus.«
»Verdammt, Buck, du hast recht!« entfuhr es Jesse.
»Buck« war sein Spitzname für Frank James, der noch aus Kindertagen stammte, so wie Frank seinen Bruder manchmal »Dingus« nannte. Aber die Kindertage waren längst vorbei, wenn sie - zeitlich gesehen - für Jesse auch noch nicht lange zurücklagen. Der Krieg hatte sie beendet. Und die Jayhawkers, die auf die James-Farm geritten kamen, Jesses Stiefvater fast zu Tode lynchten, sich an seiner Mutter und seiner Halbschwester vergingen und ihn selbst schwer mißhandelten. Mit diesem Tag war Jesse James ein anderer Mensch geworden. Einer, der seinen Feinden gegenüber keine Gnade kannte. Und seine früher schon vorhandene Hartnäckigkeit hatte sich in Rücksichtslosigkeit verwandelt.
Der jüngere James-Bruder streckte eine Hand nach Lawrence aus und zog ihn am Hemdkragen auf die Knie. Hätte der Bushwacker ihn nicht festgehalten, wäre der Bankier sofort wieder umgekippt.
»Was tust du hier, Geldsack?« fragte Jesse scharf. »Hat Quantrill dich freigelassen?«
Lawrence schien die Frage gar nicht gehört zu haben. Er blickte durch den breitschultrigen, noch nicht einmal sechzehn Jahre alten Guerilla hindurch, als existierte dieser gar nicht.
»Hilfe.«, keuchte der Bankier schwach, kaum noch hörbar. »Doc Hatfield.«
»Von dem kriegst du keine Antwort, Dingus«, erkannte Frank James. »Ich laufe zum Cordwainer-Haus und sehe nach. Du und Cole nehmt euch den Stall vor. Vielleicht sind da noch mehr Überraschungen drin.«
»Und was ist mit dem hier?« fragte Jesse, den Blick auf Lawrence gerichtet.
»Laß ihn krepieren.«
Frank lief los. Sein Bruder ließ den Bankier zurück in den Straßenschlamm sinken. Er und Cole Younger näherten sich vorsichtig dem Stall, während Armstrong Lawrences Herz zu schlagen aufhörte.
*
Als sie die Schüsse und Schreie hörten, waren die Männer auf dem Bahnhof von Blue Springs für Sekunden wie gelähmt. Starr standen sie da und lauschten in die Nacht, um zu erfahren, was der Aufruhr zu bedeuten hatte. Nicht lange, denn schnell wurde ihnen bewußt, daß es nur eine Erklärung geben konnte: Ihre Flucht war entdeckt worden.
Sobald ihnen das bewußt war, arbeiteten sie nur noch fieberhafter, drängten sich auf dem engen Platz zwischen Lokomotive und Tender fast gegenseitig weg, um ohne Unterlaß eine Schaufel Kohle nach der anderen in die Feuerbüchse des Heizkessels fliegen zu lassen.
Sie mußten die Lokomotive rechtzeitig in Fahrt bringen, wollten sie die Stadt lebend verlassen. Quantrill war schlau genug gewesen, alle Pferde zu beschlagnahmen und die Stadtgrenzen zu bewachen. Aber an den Bahnhof mitten in der Stadt hatte er nicht gedacht.