Hier stand noch der Sonderzug, mit der vor kurzem die erste Fahrt auf dem fertiggestellten Teilstück zwischen Blue Springs und Kansas City stattgefunden hatte: eine prächtig verzierte, vierachsige Lokomotive mit vier Laufrädern und zwei luxuriös ausgestatteten Wagen hinter dem Tender. In den Waggons hatten die Ehrengäste die Jungfernfahrt nach Kansas City erlebt. Wenige nur, denn schließlich ging es nur um ein verhältnismäßig kurzes Bahnstück. Eine Nachricht, die in den aufgeregten Zeiten des Krieges lediglich von lokaler Bedeutung war.
Aber für die Bürger von Blue Springs war dieses Ereignis vielleicht lebensrettend. Dann nämlich, wenn es gelang, mit dem Zug nach Kansas City durchzubrechen und General Ewing zu verständigen.
Nelson Tucker kehrte mit Custis Hunter, Melvin und Sheriff Haggen zurück. Die vier Männer hatten die Weichen umgestellt, um den kleinen, in der Nähe des klobigen Wasserturms geparkten Zug auf das Hauptgleis in Richtung Kansas City zu bugsieren. Sie riefen etwas, aber die Männer auf der Lok verstanden es nicht. Der Lärm hier war zu groß: das Kreischen ihrer Schaufeln, die in den Kohlenberg auf dem Tender stießen, das heftige Bullern in der Feuerbüchse.
Tuckers Gruppe erreichte den Zug. Der Stationsvorsteher kletterte mit einer Behendigkeit, die für sein vorgeschrittenes Alter erstaunlich war, in den Führerstand der Lokomotive, wo Jacob, Hickok und die Cordwainer-Brüder die Feuerbüchse mit Kohlen füllten. Ihre vom Kohlenstaub geschwärzten Gesichter waren fast so dunkel wie das von Melvin.
»Die ganze Stadt ist in Aufruhr«, verkündete Tucker keuchend. »Offenbar hat man unsere Flucht entdeckt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Bushwackers hier auftauchen.«
»Dann sind wir hoffentlich nicht mehr hier«, stieß Hickok hervor, während er eine weitere Schaufel Kohlen ins hungrige Feuer schleuderte.
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, erwiderte Tucker, nachdem er einen prüfenden Blick auf die über dem rechten Sichtfenster angebrachten Dampfdruckanzeiger geworfen hatte. »Dem Kesselmanometer zufolge haben wir gerade genug Druck, um in schneller Schrittgeschwindigkeit aus dem Bahnhof zu dampfen.«
»Wir tun, was wir können«, ächzte Ellery Cordwainer, während er das Blatt seiner Schaufel in den Kohlenhaufen stieß.
Ein lauter Ruf ließ alle zusammenfahren; Amos Haggen, der ein Stück vor der Lok in der Nähe des Stationsgebäudes stand, stieß ihn aus: »Sie kommen! Ein Trupp Männer läuft auf den Bahnhof zu!«
Hickok setzte die Schaufel ab und wischte mit dem Ärmel Schweiß und Kohlenstaub aus seinem Gesicht. »Dann fahren wir los!«
»Wir sind noch nicht schnell genug!« protestierte Tucker.
»Wir schießen uns den Weg frei«, sagte der Scout, drückte Melvin seine Schaufel in die Hand und zog seine Colts aus der Schärpe. »Wer nicht auf der Lok arbeiten muß, folgt mir in die Wagen und geht dort in Stellung!«
Custis Hunter, Sheriff Haggen, Avery Cordwainer, Brock Haley und Martin folgten ihm. Die übrigen Männer schaufelten weiterhin Kohlen in die Feuerbüchse, während Nelson Tucker seine ungewohnte Tätigkeit als Lokführer aufnahm.
Die Lokomotive ruckte an, als die ersten Guerillas das Bahnhofsgelände erreichten. Es war nur eine kleine Gruppe. Offenbar hatte Quantrill seine Männer in alle Richtungen geschickt, um die Ausbrecher aufzuspüren. Das stählerne Ungetüm, daß sich gerade in Bewegung setzte, ersparte ihnen das Suchen. Sie rissen ihre Waffen in Anschlag und nahmen den Zug unter Feuer.
Darauf hatten Hickok und die Männer in den Wagen nur gewartet.
Die im Dunklen aufzuckenden Mündungsflammen zeigten ihnen, wo genau die Freischärler standen. Aus den Fensteröffnungen der Waggons erwiderte Hickoks Gruppe das Feuer. Mehrere Bushwackers sanken getroffen zu Boden. Die anderen suchten in Panik nach Deckung. Zeit genug für den Zug, den Bahnhof hinter sich zu lassen. Die vier Heizer arbeiteten weiterhin fieberhaft, und der Pfeil des Kesselmanometers drehte sich immer weiter nach rechts. Die Triebstangen arbeiten schneller und stießen die Kolben in immer kürzeren Abständen in die Zylinder. Allmählich gewann der Zug an Fahrt, wenn er auch noch weit von der Höchstgeschwindigkeit entfernt war.
Inzwischen hatten die Guerillas mitbekommen, daß die Ausbrecher zum Bahnhof geflohen waren. Immer wieder wurde auf den Zug geschossen. Kugeln fuhren splitternd in das Holz der Wagen oder prallten gegen die stählerne Lok und sirrten als Querschläger in die Nacht hinaus. Je schneller die Fahrtgeschwindigkeit wurde, desto schneller ließ der Zug auch diese Störfeuer hinter sich.
Als der Stadtrand auftauchte, erschien Hickok in der Tür, die vom vorderen Wagen zum Tender führte, und rief: »Macht ordentlich Dampf! Sie werden versuchen, uns am Stadtrand aufzuhalten.«
Der Scout kehrte nicht in den Wagen zurück, sondern ging auf der kleinen Plattform davor in die Hocke und starrte, beide Colts in den Fäusten, nach vorn.
Tatsächlich schlug dem Zug heftiges Feuer entgegen, als er an den letzten Häusern vorbeirumpelte, jetzt immerhin so schnell wie ein langsam galoppierendes Pferd.
Und dann sahen die Männer im Zug die böse Überraschung: Ein offener Kastenwagen war quer über die Schienen geschoben worden. Im Innern hatten sich ein paar Bushwackers verschanzt und schossen aus allen Rohren auf die Lokomotive.
Mit einem Aufschrei brach Ellery Cordwainer zusammen. Die Schaufel mit den Kohlen entglitt seinen Händen und fiel neben dem Zug zu Boden. Byron Cordwainer ging neben seinem Bruder in die Knie und untersuchte ihn.
»Er ist bewußtlos, hat eine Kugel in der Brust«, stellte der Mann in der blauen Offiziersuniform fest.
»Lassen Sie ihn auf dem Boden liegen«, riet Jacob. »Dort ist er vor weiteren Kugeln am besten geschützt.«
Melvin zeigte auf den Wagen, der über den Gleisen stand, und fragte zweifelnd: »Was sollen wir tun?«
»Weiterfahren!« schrie Hickok, der jetzt aufrecht auf der Plattform stand und einen Schuß nach dem anderen aus seinen Revolvern jagte.
Zwei Guerillas in dem Kastenwagen schrien getroffen auf. Einer rutschte zur Seite weg, der andere fiel kopfüber aus dem Wagen auf die Gleise.
Die Lok fuhr über den Mann hinweg und erfaßte den schweren Wagen. Die Guerillas, die noch in ihm hockten, sprangen nach allen Seiten auf den Boden. Wer es nicht rechtzeitig schaffte, wurde von dem vor der Lok prangenden Kuhfang mit dem Wagen angehoben und in die Luft geschleudert. Der Kastenwagen zersplitterte in tausend kleine Teile, als die Lok durchbrach.
Dann lag Blue Springs hinter dem Zug, und er dampfte in die offene Prärie hinaus. Aus der Stadt sandte man ihm noch etliche Kugeln hinterher, aber das war bald nur noch Munitionsverschwendung für die Freischärler. Auf der Lok und in den Wagen brach Jubel aus.
Jacob freute sich nur kurz. Dann bemerkte er, daß sich Nelson Tucker, der neben dem rechten Wasserhahn für die Kesselspeisung in die Hocke gegangen war, nicht mehr rührte. Als er den Stationsvorsteher anfaßte, fiel dieser nach hinten. In seinem Kopf klaffte ein großes rotes Loch. Er war tot.
»Was machen wir jetzt?« fragte Byron Cordwainer.
»Ich habe Tucker zugeschaut«, sagte Jacob. »Vielleicht kann ich das Ungetüm bedienen.« Er wandte sich zu Hickok um und schrie gegen den Lärm des Zuges: »Tucker ist erschossen worden. Ich übernehme seinen Posten. Schickt uns einen neuen Heizer!«
»In Ordnung«, antwortete der Scout und verschwand im Wagen.
Kurz darauf erschien Martin, um Jacobs Schaufel zu übernehmen.
Jacob sah ihn zweifelnd an. »Kannst du das mit deinem verletzten Arm?«
»Auf dem Hof meines Vaters habe ich einmal mit gebrochenem Arm bei der Ernte geholfen, weil es am nächsten Tag regnen sollte.« Martin grinste. »Außerdem nütze ich euch nicht viel, wenn ich den Scharfschützen spiele.«