»Ich bin nicht aus dieser Stadt«, antwortete der Deutsche achselzuckend. »Ich weiß es nicht.«
»Ich habe mein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht und weiß es auch nicht«, brummte Cordwainer, während Clyde die Tür wieder verriegelte.
»Ich werde mich etwas ausruhen«, sagte Martin und ging nach oben. Unten blieben die Menschen zurück, die sich mit keinem Wort nach seiner Verwundung erkundigt hatten. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Auf dem Gang im ersten Stock steuerte Martin das Zimmer an, in dem er und Jacob einquartiert waren, als er plötzlich einen spitzen Schrei hörte, gefolgt von einem langgezogenen, gequälten Stöhnen. Es war die Stimme einer Frau.
Sofort dachte er an Irene, die er und Jacob auf dem Auswandererschiff unter ihre Fittiche genommen hatten. Sie war mit ihrem kleinen Sohn Jamie im Haus der Cordwainers zurückgeblieben, als ihre beiden Freunde an diesem Morgen gegangen waren, um die Stadt gegen Quantrill zu verteidigen.
Als er vor der Tür ihres Quartiers stand, hörte er ein leises Wimmern, das aber nicht aus ihrem Zimmer kam, sondern aus dem Nebenraum. Er klopfte dort gegen die Tür, vorsichtig erst, dann heftiger.
»Herein«, rief schließlich eine Frauenstimme, ohne daß das Wimmern aufhörte.
Als er eintrat, wäre er beinahe sofort wieder gegangen. Auf die Szene, die sich seinen Augen bot, war er nicht vorbereitet. Irene und das schwarze Dienstmädchen Beth beugten sich über das riesige, von einem Baldachin überspannte Bett, in dessen zerwühlten Kissen Virginia Cordwainer lag und sich in schmerzhaften Krämpfen wand.
Das schweißnasse Nachthemd der schwangeren Virginia war so weit hochgeschoben, daß ihre Brüste zur Hälfte hervorlugten. Ihre Hände hatten sich ins Bettlaken gekrampft, als wollte sie es zerreißen. Ihr Gesicht, von dem der Schweiß in kleinen Bächen herunterlief, war schmerzverzerrt. Aus ihrem halbgeöffneten Mund drang das fortwährende Wimmern und Stöhnen.
»Pressen«, stieß Irene hervor, während sie Virginias Gesicht mit einem feuchten Tuch abtupfte. »Sie müssen stärker pressen, Virginia!«
»Das... tu ich... doch...«, brachte die Frau im Bett unter Schmerzen hervor. »Ich tu. alles. was ich kann. Es. es geht. einfach nicht!«
»Es muß gehen!« beharrte Irene. »Ihr Kleines will unbedingt auf diese Welt, und Sie müssen ihm dabei helfen.«
Martin erbleichte und sagte stotternd: »Ich habe nicht gewußt, daß es schon soweit ist.«
»Niemand hat es gewußt«, antwortete Irene. Da bemerkte sie seinen Verband, und ihr Gesicht wurde noch ernster. »Martin, was ist passiert?«
»Nur ein Streifschuß. Ich bin kein großer Verlust für die Stadtverteidigung. Ich habe keinen von den Quantrill-Männern getroffen. Aber wir haben sie doch zurückgeschlagen.«
»Dann ist unsere Stadt gerettet?« fragte die Schwarze hoffnungsvoll.
»Nein. Quantrill belagert uns weiterhin. Ich bin ziemlich sicher, daß er wieder angreift.«
»Was ist mit Jacob?« erkundigte sich Irene, und ihre Stimme zitterte vor Angst. Sie empfand mehr für Jacob als bloße Freundschaft, auch wenn sie das niemandem sagte, weil Carl Dilger, der Vater ihres Kindes, in Oregon auf sie wartete. »Ist ihm. etwas zugestoßen?«
»Nein«, antwortete Martin kopfschüttelnd. »Er hat zwei von Quantrills Halunken erwischt, aber die ihn nicht.«
Virginia versuchte sich ein wenig aufzurichten, schaffte es aber nicht und sank ermattet wieder in die Kissen zurück.
Leise, immer wieder von gequältem Stöhnen unterbrochen, fragte sie: »Stimmt das. mit. Doc Hatfield? Ist er. Quantrills Gefangener?«
»Es sieht so aus. Jedenfalls lautete so die Nachricht, die wir bei Peterson fanden.«
»O Gott«, murmelte sie und schloß die Augen. »Wer soll mir dann noch helfen?«
»Wir«, sagte Irene laut. »Und Gott.«
Aber ihr Gesicht verriet Martin, daß sie nicht so überzeugt davon war, wie sie sich der Schwangeren gegenüber gab.
Irene wandte sich wieder an Martin und zeigte auf das Kinderbett mit dem kleinen Jamie, der verängstigt dreinschaute. »Ich habe Jamie herübergeholt, damit er nicht allein ist. Aber es ist wohl nicht das Richtige für ihn. Könntest du auf ihn achtgeben?«
»Sicher doch.«
Irene und er trugen das Bettchen mit dem kleinen Kind in sein Zimmer.
»Es läuft nicht gut, oder?« fragte Martin, als sie dort angekommen waren. »Ich meine die Geburt.«
»Nein«, antwortete die junge Deutsche und atmete tief aus. »Es sieht sogar ziemlich schlimm aus. Beth und ich haben das Gefühl, daß das Kind quer im Bauch liegt. Ein Arzt müßte her, um es herauszuoperieren.«
»Weiß Virginia das?«
»Nein. Je länger sie nichts davon weiß, desto besser.«
»Gibt es sonst niemanden in Blue Springs, der sich mit solchen Sachen auskennt.«
»Leider nicht. Die Hebamme ist letzten Monat gestorben.«
»Warum hilft euch Mrs. Cordwainer nicht? Ich meine die alte Dame, Virginias Schwiegermutter. Sie hat immerhin schon zwei Kinder auf die Welt gebracht.«
»Sie scheint nicht daran interessiert zu sein.«
»Nicht interessiert?« wiederholt Martin ungläubig. »An der Geburt ihres eigenen Enkels?«
»Es ist nicht ihr Enkelkind«, sagte Irene langsam, nach den richtigen Worten suchend. »Jedenfalls nicht eigentlich.«
»Das verstehe, wer kann. Ich nicht.«
»Byron Cordwainer ist nicht der Vater. Verstehst du das?«
»Ja. Aber wieso? Ich. ich meine.«
»Wieso Virginia das Kind eines anderen Mannes im Bauch trägt? Weil sie diesen Mann liebte und ihn heiraten wollte, bis Byron Cordwainer ihn ermorden ließ.«
»Was?« fragte ein fassungsloser Martin und starrte Irene noch ungläubiger an als zuvor.
In knappen Worten berichtete Irene ihm, was sie von Virginia erfahren hatte. Sie war noch nicht ganz fertig, als eine ganze Reihe spitzer Schreie aus dem Zimmer der Schwangeren erscholl.
»Ich muß wieder rüber«, sagt Irene. »Paß gut auf Jamie auf.«
Als sie Martin mit dem Kind alleingelassen hatte, sah der Auswanderer andächtig auf den jungen, im Vergleich zu dem stämmigen Mann winzig wirkenden Erdenbürger und murmelte: »Ein Kind, dessen Vater tot ist. Und ein Kind, dessen Vater irgendwo in diesem großen Land verschollen ist. Was hatte ich doch für ein Glück, daß mein Vater ein einfacher Heidebauer war.«
*
Der junge Reiter schonte seine Pferde nicht. Mit lauten Rufen und Tritten in die Flanken trieb er den Schimmel, auf dem er saß, voran. Der Braune, dessen Zügel an den Sattel des Schimmels gebunden waren, mußte mithalten. Er war das Ersatzpferd, auf das der Reiter überwechseln würde, sobald der Schimmel erschöpft war.
Vom Reiten, von Pferden und vom schnellen Pferdewechsel verstand Will Cody eine ganze Menge. Vieles davon hatte er gelernt, als er für den Pony Express geritten war.
Keiner der vielen Kurierritte damals war so wichtig gewesen wie der Ritt, auf dem er sich jetzt befand. Als Expreßreiter hatte er auch Nachrichten übermitteln müssen, in vielen Fällen sicher auch wichtige Nachrichten. Aber jetzt ging es um Leben und Tod. Um das Leben und um den Tod der Bürger von Blue Springs. Ob sie überlebten oder starben, lag in seinen Händen, hing davon ab, ob er durchkam und General Ewing in Kansas City rechtzeitig über Quantrills Umtriebe in Kenntnis setzte.
Der siebzehnjährige Bursche mußte plötzlich an seine Mutter denken und bekam ein schlechtes Gewissen. Obwohl es ihn drängte, auf Seiten der Union gegen die verhaßten Sklavenhalter zu kämpfen, hatte Mary Ann Cody ihrem Sohn das Versprechen abgetrotzt, sich nicht zur Armee zu melden, bis er achtzehn war. Will konnte das verstehen. Seine Mutter hatte Angst, den einzigen Mann zu verlieren, der ihrer Familie geblieben war.
Erst war Wills älterer Bruder Sam gestorben, mit zwölf Jahren bei einem Reitunfall.
Dann vor sechs Jahren Wills Vater Isaac, an den Folgen einer schweren Erkältung. Die eigentliche Todesursache aber war Isaac Codys angegriffene Gesundheit, die von einem Messerstich herrührte, den ein Verfechter der Sklaverei dem erklärten Sklavereigegner hinterrücks versetzt hatte. Isaac Cody war nur sechsundvierzig Jahre alt geworden.