Kehrte Hickok jetzt zurück?
Oder war der Kundschafter von Quantrill erwischt worden, und jetzt kamen die Guerillas, um Hatfield zu holen?
Oder hatte der Arzt nur ein Geräusch gehört, das von einem umherstreifenden Tier verursacht worden war? Die quälende Ungewißheit ließ das Herz des alten Mannes bis zum Hals schlagen.
Wieder hörte er ein Knacken im Gebüsch und sah dann undeutlich eine schemenhafte Gestalt, die sich durch das Unterholz auf ihn zubewegte.
Hatfield brachte den Revolver in Anschlag, stützte den langen Lauf auf seinen linken Unterarm und zog den Hahn zurück.
»Schießen Sie nicht, Doc«, rief eine ihm bekannte Stimme. »Ich bin's, Hickok.«
Es war die Stimme Hickoks. Aber konnte es nicht trotzdem eine Falle sein? Vielleicht folgten ihm Quantrills Männer.
»Sind Sie allein?« fragte der Arzt laut.
»Nur mein Pferd und ich, Doc.«
»Dann kommen Sie!«
Hatfield hielt den Revolver weiterhin auf die Gestalt gerichtet, die jetzt die Lichtung betrat, einen Rappen am Zügel führend.
»Verfluchtes Unwetter«, schimpfte James Butler Hickok und verzog sein Raubvogelgesicht zu einer sauren Miene. »Es hat so viele Äste und Zweige von den Bäumen gerissen, daß sich nicht mal eine Maus lautlos durch den Wald bewegen könnte.«
Er zeigte auf den Revolver des Arztes. »Stecken Sie Ihren Schießprügel lieber weg, Doc, sonst löst sich noch ein Schuß. Wäre mir gar nicht angenehm, wenn er mich träfe. Aber mein Kompliment für Ihre Wachsamkeit.«
»Von wegen«, brummte Hatfield, als er die Waffe zurück ins Holster schob. »Ich war eingenickt, bevor Sie kamen.«
»Sie sind rechtzeitig aufgewacht, das zählt.«
»Mag sein. Welche Neuigkeiten haben Sie, Hickok?«
»Mäßige. Noch halten die Verteidiger Blue Springs. Aber Quantrills Männer haben die Stadt eingekesselt. Da kommt nicht mal ein Wildkaninchen durch.«
»Und was tun wir jetzt?«
»Durchbrechen.«
»Aber Sie haben doch eben gesagt.«
»Ich weiß«, unterbrach Hickok den Satz des Arztes. »Aber wir haben keine andere Möglichkeit, wenn wir den Leuten in der Stadt beistehen wollen. Schließlich können wir Quantrill nicht höflich fragen, ob er uns durchläßt.«
Hatfield nickte schwer und seufzte: »Das sehe ich ein. Aber wie gehen wir vor? Haben Sie einen Plan?«
Der Kundschafter rückte seinen dunklen, schmalkrempigen Hut zurecht und grinste. »Sicher doch. Wir reiten in Richtung Blue Springs, bis wir Quantrills Linien erreichen. Dann geben wir unseren Pferden die Sporen und halten direkt auf die Stadt zu, als sei der Teufel hinter uns her.« Hickoks Gesichtsausdruck wurde wieder ernst. »Was er ja auch ist.«
»Wann reiten wir los?«
»Sofort. Wir sollten es angehen, bevor Quantrill seinen nächsten Angriff auf die Stadt unternimmt.«
Sie packten ihre wenigen Sachen zusammen und führten die drei Pferde aus dem dichten Wald heraus. Das dritte, reiterlose Pferd trug Hatfields große schwarze Arzttasche und den Sack mit den erbeuteten Waffen der verwundeten Quantrill-Männer, die Hickok und Hatfield auf der Miller-Farm überwältigt und dort zurückgelassen hatten.
Als der Wald lichter wurde, stiegen sie in die Sättel und ritten auf einem von Hickok ausgesuchten, wegen der vielen Bäume und Hügel ausreichend Schutz vor frühzeitiger Entdeckung versprechenden Weg zur Stadt.
*
Wasser!
Er spürte Wasser in seinem Gesicht. Es war angenehm kühl und frisch und brachte das Leben in ihn zurück, holte ihn aus der tiefen Dunkelheit des Vergessens, in die er gestürzt war.
Als Will Cody die Augen aufschlug, wünschte er sich, er wäre in dem schwarzen Loch geblieben. Drei Männer umstanden ihn: Jasper, Morgan und Jones. Ihre Gesichter verhießen nichts Gutes.
Jones hielt eine Feldflasche in der Rechten, aus der er einen beständigen Wasserstrahl auf das Gesicht des Verwundeten niederplätschern ließ. Jetzt unterbrach er die Behandlung, schraubte die Blechflasche zu und hängte sie zurück an seinen Sattel.
»Das Stinktier ist wach«, knurrte er und spuckte dem Verletzten mitten ins Gesicht.
»Yeah«, brummte Morgan. »Es ist zäh wie Leder. Einem anderen hätte Jaspers Schuß leicht das Lebenslicht ausgeblasen.«
»Meine Kugel hat ihn dicht unter der linken Schulter erwischt«, sagte der Texaner. »Etwas weiter nach rechts, und der Stinkstiefel wäre tatsächlich hinüber gewesen. Ich hätte es ihm gegönnt. Aber vielleicht ist es ganz gut so. Er kann uns ein paar Fragen beantworten.« Unerwartet hieb er die Spitze seines Stiefels in Codys Seite. »Das tust du doch, oder?«
Der Schmerz, der von seiner Schulter ausging und in heftigen, kurz aufeinander folgenden Wellen seinen ganzen Körper überflutete, raubte Cody fast die Luft zum Atmen. Jaspers harter Tritt verstärkte die Schmerzen noch und warf den Verwundeten zurück ins Dunkel. Er ließ sich nur zu gern in das tiefe, schwarze Loch fallen, das Erlösung von seinen Schmerzen versprach, zumindest aber das zeitweise Vergessen.
»Er ist tot«, stellte Morgan ohne Mitleid fest.
Jasper kniete sich neben Cody und untersuchte ihn kurz. »Noch nicht ganz. Aber wenn wir ihn nicht verbinden, ist er es bald.«
»Warum sollten wir ihn verbinden?« fragte Jones. »Laßt ihn doch krepieren!«
»Vielleicht möchte der Captain ihm ein paar Fragen stellen, du Hornochse«, knurrte Jasper und begann, Codys Hemd in Streifen zu reißen, um daraus einen Verband für den Verletzten zu fertigen. »Helft mir! Je eher wir wieder bei Quantrill sind, desto besser. Ich möchte endlich wissen, was hier gespielt wird.«
Als sie mit der Arbeit fertig waren, luden sie Cody wie einen Sack auf den Braunen, den er zuletzt geritten hatte, so daß die Arme des Verletzten auf der einen und seine Beine auf der anderen Seite herunterhingen. In dieser Lage banden sie ihn fest.
Es war nicht die gesündeste Haltung für einen Schwerverletzten, aber das war ihnen gleichgültig. Wenn Cody starb, ging die Welt für sie nicht unter.
Die Sonne im Rücken, ritten sie ostwärts, in Richtung Blue Springs.
*
Die beiden Reiter, die Blue Springs fast erreicht hatten, wurden langsamer, als der vordere die Hand hob.
»Hinter der nächsten Hügelkette liegen Quantrills Männer«, sagte Hickok leise, als bestände die Gefahr, gehört zu werden. »Wir werden jetzt langsam weiterreiten und die Pferde antreiben, sobald sie uns bemerken.« Er reichte dem Arzt die Zügel des Packpferds. »Nehmen Sie den, Gaul, Doc? Ich glaube, es wird besser sein, wenn ich eine Hand zum Schießen frei habe.«
»Natürlich«, sagte Hatfield und nahm die Zügel in die Hand. »Schießen könnte ich zwar auch, aber mit dem Treffen habe ich so meine Probleme, besonders beim Reiten.«
Hickok überprüfte den Sitz der beiden Navy Colts, die mit den Griffen nach vorn in der roten Schärpe steckten, die er anstelle eines Waffengurts um seinen Leib gebunden hatte.
»Machen Sie sich keine Gedanken um die Schießerei, Doc. Bemühen Sie sich nur, die Stadt schnell zu erreichen und ein möglichst kleines Ziel abzugeben. Alles andere ist mein Problem.«
Der Arzt warf seinem Begleiter einen skeptischen Blick zu. »Was haben Sie vor?«
»Notfalls unter Quantrills Leuten ein bißchen Verwirrung stiften. Aber keine Angst, ich bin nicht lebensmüde.«
Er schnalzte mit der Zunge und trieb sein Pferd an. Hatfield folgte ihm in derselben langsamen Gangart.
Als sie auf die Kuppe eines Hügels kamen, hielten sie im Schatten einer Baumgruppe erneut an. Quantrills provisorisches Lager lag jetzt offen vor ihnen. Die Männer dort waren emsig beschäftigt, zusammengetragenes Reisig auf die Wagen zu laden, die George Todds Trupp vom Überfall auf das Liberty-Depot mitgebracht hatte.
»Keine Wachen nach dieser Seite hin«, stellte Hatfield überrascht und erleichtert zugleich fest. »Quantrill scheint sich sehr sicher zu fühlen.«