Hickok ergriff die Waffe und schoß ihren Besitzer aus dem Sattel. Als auch der zweite der drei Guerillas zu Boden flog, wendete der dritte sein Tier in panischem Schrecken und stob davon.
Hickok beruhigte den Grauschimmel, bestieg ihn und galoppierte auf die rettenden Barrikaden zu.
Hinter ihnen rutschte er erleichtert aus dem Sattel und suchte Doc Hatfield, während die Verteidiger die Lücke in ihrer Stellung wieder mit Kisten, Fässern und Sandsäcken schlossen. Hatfields Pferde standen ganz in der Nähe. Der Arzt selbst saß mit geschlossenen Augen auf dem Boden, den Rücken an die Wand eines Pferdestalls gelehnt. Er rührte sich nicht. Sein Kopf war blutüberströmt.
*
Virginia war kaum noch ansprechbar. Sie verfiel zusehends in einen Zustand der Apathie. Die unerträglichen Schmerzen und die Ausweglosigkeit ihrer Situation schienen ihr den Verstand zu rauben. Die schwangere Frau schrie nicht mehr, stöhnte nur noch, wimmerte leise vor sich hin und flehte ihren Schöpfer an, sie doch endlich sterben zu lassen.
Ratlos standen Irene und Beth neben ihrem Bett, auf dessen Laken sich ein immer größerer Blutfleck bildete.
»Mrs. Cordwainer blutet«, sagte Beth fast tonlos. »Das Kind muß etwas in ihr zerstört haben.«
Irene erwiderte nichts. Sie fand keine Worte für das, was sie bewegte. Es war eine Qual, danebenstehen und mitansehen zu müssen, wie die Mutter und ihr ungeborenes Kind langsam eingingen.
Sie hatten alles versucht, sogar eine Massage des Mutterleibs, um das Baby in die richtige Stellung zu bringen.
Beth hatte als Kind mitangesehen, wie ein querliegendes Kalb auf diese Weise auf die Welt geholt wurde. Das Kalb war zwar tot, aber die Mutter hatte wenigstens überlebt. Bei der kalbenden Kuh mochte es geklappt haben, aber Irene und Beth hatten sich vergeblich abgemüht.
»Mrs. Cordwainer wird sterben«, flüsterte Beth.
Es klang, als wäre sie sich dessen völlig sicher. Und als empfände sie große Trauer darüber.
»Sie mögen Mrs. Cordwainer sehr?« fragte Irene.
Beth nickte, und Tränen rannen über ihre Wangen. »Ich kenne sie schon, seit sie ein Kind war. Ich habe früher für Mr. Lawrence gearbeitet. Mrs. Cordwainer hat mich mit in dieses Haus genommen, um nicht.«
Die Schwarze brach ab, weinte nur noch.
»Um nicht völlig allein zu sein?« setzte Irene den Satz fort.
Beth nickte.
Irene wollte ihr etwas Tröstendes sagen, aber ihr fiel nichts ein. Deshalb streichelte sie einfach nur ihren Arm. Beth sah sie dankbar an.
Das plötzliche Klopfen an der Tür ließ die beiden Frauen vor Schreck zusammenzucken. Sie hatten keine Schritte auf dem Gang gehört.
»Herein«, sagte Irene und dachte an Martin.
Aber der Mann, der jetzt ins Zimmer trat, war nicht ihr Freund vom Auswandererschiff. Es war ein kleiner älterer Mann mit einem großen weißen Schnauzbart. Um seinen Kopf war turbanartig ein blutiger Verband gewickelt. Er trug eine große schwarze Tasche bei sich.
»Doc Hatfield!« schrie das schwarze Hausmädchen freudig erregt.
Der Arzt nickte knapp und sah dann besorgt auf das Bett, wo sich Virginia in kovulsivischen Zuckungen wand.
»Sieht so aus, als sei ich gerade noch rechtzeitig gekommen«, sagte Edwin Hatfield, stellte seine Tasche neben dem Bett ab, zog seine Jacke aus und krempelte die Hemdsärmel hoch.
»Können Sie Mrs. Cordwainer noch helfen, Doktor?« fragte Beth mit banger Hoffnung.
Ein Zucken lief durch Hatfields Gesicht. Er antwortete nicht, fragte nur, wo er sich die Hände waschen könnte.
*
Während Hatfields Wunde gereinigt und verbunden wurde, erzählte Hickok Byron Cordwainer und seinen Männern in knappen Worten, was sich ereignet hatte. Zum Glück war der Arzt nur von einem Streifschuß getroffen worden. Die stark blutende Wunde sah schlimmer aus, als sie war.
Hatfield wollte sich als erstes um Hickoks verstauchten Fuß kümmern, aber als sie von Virginia Cordwainers prekärer Lage erfuhren, sagte der Scout: »Kümmern Sie sich rasch um die Frau, Doc! Bei mir sind schon schlimmere Verletzungen von selbst verheilt.«
Draußen vor den Barrikaden, war es wieder ruhig. Die Reiter, die Hickok und Hatfield verfolgt hatten, hatten sich zurückgezogen. Zwei waren, wahrscheinlich tot, zurückgeblieben. Sie lagen im Dreck, und niemand, kümmerte sich um sie.
Soldatenschicksal, durchfuhr es Jacob Adler, der mitgeholfen hatte, die Lücke in den Barrikaden wieder zu schließen. Jetzt kauerte er, den Karabiner in den Händen, in seiner Stellung und lauschte der Erzählung des hakennasigen Mannes mit der auffälligen roten Schärpe.
Jacob hatte sich in seiner Heimat nicht danach gedrängt, den Militärdienst für den König von Preußen abzuleisten. Die Umstände, die zu seiner überstürzten Flucht nach Amerika geführt hatten, verhinderten, daß er diesen Dienst antrat. Er war nicht traurig darüber, hatte das Benutzen von Schußwaffen immer gehaßt.
Jetzt war er gezwungen, sie zu benutzen und andere Menschen vielleicht zu töten. Er mußte es tun, um die Menschen, die ihm am Herzen lagen, zu beschützen. Das Schicksal ließ sich nicht betrügen. Er war jetzt doch eine Art Soldat, auch wenn er keine Uniform trug.
Aber der Mann, der die Verteidigung von Blue Springs leitete, trug eine Uniform, den blauen Waffenrock eines Majors. Byron Cordwainer hatte sich diesen Rang während der Indianerkriege bei den regulären Truppen erworben. Aus dem regulären Dienst war er ausgeschieden, aber Rang und Waffenrock trug er als Anführer einer irregulären Reiterkompanie weiterhin.
Jacob hatte darüber nachgedacht, inwieweit sich Cordwainers Jayhawkers von Quantrills Bushwackers unterscheiden mochten, aber er war zu keinem Ergebnis gelangt. Letztlich war es müßig, darüber zu spekulieren. Die Auswanderer und ihre Mitreisenden saßen mit Cordwainers Leuten in einem Boot. Ihr gemeinsamer Feind war Quantrills Schwarze Brigade, und das hielt sie zusammen.
»Wie schätzen Sie die Lage ein, Mr. Hickok?« fragte Cordwainer, nachdem der Kundschafter seinen Bericht beendet hatte.
»Für uns nicht sehr gut.«
»Aber wir haben hier eine gute Befestigung«, sagte der Major und zeigte auf die Barrikaden.
Hickok blieb unbeeindruckt. »Nicht mehr lange, wenn Quantrill erst die Wagen einsetzt.«
»Was für Wagen?« .
»Haben Sie eben die gewaltige Explosion gehört?«
»Ja«, antwortete Cordwainer, sah den Scout aber weiterhin verständnislos an.
»Das war ein mit Pulverfässern und Munitionskisten beladener Wagen. Ich habe ihn hochgehen lassen. Aber die Rebellen haben noch mehr davon. Wenn sie es schaffen, die Wagen an unsere Stellungen zu bringen, haben wir die längste Zeit Barrikaden gehabt.«
Allmählich zeichnete sich Erkenntnis auf dem asketischen Gesicht des Majors ab. Er wollte noch eine Frage stellen, wurde aber durch Schüsse unterbrochen, die vom Westteil der Stadt herüberklangen.
Und dann rief einer der Männer hinter den östlichen Barrikaden: »Sie kommen! Quantrill greift an!«
*
Der Wagen rumpelte einen steilen Hügel hinunter. Die große knochige Frau auf dem Bock hatte Mühe, die Zugpferde davon abzuhalten, schneller zu laufen. Das neunzehnjährige Mädchen, das neben ihr saß, warf den beiden Kleppern immer wieder ängstliche Blicke zu.
»Gut so, Agnes«, rief Ben Miller, der auf einem Pferd saß, seiner Frau zu. »Du machst das sehr gut. Die Geschwindigkeit ist genau richtig. Sieh nur zu, daß die Gäule nicht schneller werden.«
»Mach ich schon, Ben«, antwortete Agnes Miller und strengte sich weiter an, die Pferde zurückzuhalten.
Schließlich trug sie die Verantwortung für sich und ihre beiden Töchter: Cora, die neben ihr auf dem Bock saß, und die kleine, fieberkranke Ann, die zwischen den wichtigsten Habseligkeiten der Millers hinter ihr in dem planenüberspannten Kastenwagen lag.