Ben Miller hätte natürlich den Platz mit seiner Frau tauschen können, um den Wagen selbst den Hügel hinunterzusteuern. Aber Agnes hatte das nicht gewollt. Die Farmerin hatte schon öfter einen Wagen gelenkt und traute sich zu, mit dem Gespann umzugehen.
Auch wollte sie ihrem Mann nicht zuviel zumuten. Als Quantrills Guerillas auf ihre Farm gekommen waren, hatte Ben einen Streifschuß am Kopf abbekommen. Er trug noch den Verband, den Doc Hatfield ihm angelegt hatte.
Ben gab vor, keine Beschwerden mehr zu haben. Aber wenn er sich unbeobachtet glaubte, lag ein gequälter Ausdruck auf seinem Gesicht. Wären die Kinder nicht gewesen, hätte Agnes ihn schon darauf angesprochen. Doch sie wollte ihre Kinder nicht noch mehr verängstigen, als sie es ohnehin schon waren.
Und Agnes wollte mit einem Fahrerwechsel keine wertvolle Zeit verlieren. Denn die Millers waren auf der Flucht. Auf der Flucht vor Quantrills wilder Horde. Sie wußten nicht, ob sie verfolgt wurden, aber es konnte gut sein. Der Weg nach Kansas City war noch weit.
Hätten Doc Hatfield und die beiden Fremden, Hickok und Cody, die von Quantrill auf der Miller-Farm zurückgelassenen Verwundeten nicht überwältigt, befände sich die Farmerfamilie noch immer in der Gewalt der Südstaatler. Jetzt flohen sie mit ihrer wichtigsten Habe nach Kansas City, um im Schutz der dortigen Garnison abzuwarten, bis es in der Gegend um Blue Springs wieder ruhiger zuging.
Als der Wagen wohlbehalten das abschüssige Gelände hinter sich gelassen hatten, brannten die Zügel in den Händen der Farmerin. Sie schnalzte mit der Zunge und trieb die Pferde zu schnellerer Gangart an.
Dann wandte sie sich an Cora: »Klettere mal nach hinten und schau nach deiner Schwester!« »Ja, Ma.«
Cora verschwand unter der Plane, die über den alten Kastenwagen der Millers gespannt war.
»Ann ist wach«, rief Cora. »Ich bleibe bei ihr und mache ihr ein paar feuchte Umschläge.«
»Ist gut«, erwiderte ihre Mutter und sah besorgt zu Ben, der seinen Braunen zum Wagen lenkte. »Wo Johnny nur bleibt?«
»Ich weiß nicht«, brummte Ben und kniff die Augen zusammen, als er nach Westen blickte, um eine Spur von seinem Sohn zu entdecken.
Der sechzehnjährige Johnny war vor einer Stunde auf seinem Fuchs vorausgeritten, um die Gegend zu erkunden. Weniger, um mögliche Gefahren zu entdecken, mit denen vor ihnen nicht zu rechnen war, als um eventuelle Hilfe auszukundschaften. Vielleicht fand er eine Möglichkeit, das Militär rasch über Quantrills Auftauchen bei Blue Springs zu informieren. Zwar war der junge Cody mit zwei schnellen Pferden nach Kansas City aufgebrochen, aber die Leute in Blue Springs waren sicher für jede Stunde dankbar, die das Militär ihnen eher zu Hilfe kam.
Ben Miller konnte nicht ahnen, wie sich zwischenzeitlich die Lage in der Stadt zugespitzt hatte. Und daß die Verteidiger der Stadt auf Will Cody nicht mehr hoffen durften.
Der Farmer hielt sein Pferd an und verlängerte den Schatten, den die verbogene Krempe seines Filzhutes warf, mit der flachen, an die Krempe gehaltenen Hand. Aber so sehr er auch die von sanften Hügeln und kleinen Wäldern beherrschte Gegend vor sich absuchte, von seinem Sohn fehlte jede Spur.
»Es war ein Fehler«, murmelte Ben Miller so leise, daß es seine Frau vorn auf dem Wagen nicht hören konnte. »Ich hätte Johnny nicht allein vorschicken dürften, nicht in solchen Zeiten.«
Aber waren die Zeiten im Gebiet zwischen Kansas und Missouri, das man wegen der vielen Unruhen auch die »blutige Grenze« nannte, jemals besser gewesen? Falls es so gewesen war, konnte er sich nicht mehr daran erinnern.
Mit einem unwilligen Kopfschütteln trieb er den Braunen an und holte den Wagen ein. Das Kopfschütteln hätte er lassen sollen. Es brachte die starken, übelkeitserregenden Schmerzen zurück, die seinen Schädel seit dem Streifschuß heimsuchten. Er bemühte sich, es vor seiner Frau zu verbergen.
Ohne Erfolg.
»Fehlt dir etwas, Ben?« fragte Agnes im Flüsterton. Ihr Gesicht war ein Spiegel ihrer Besorgnis.
»Nur Kopfschmerzen«, meinte Ben und zwang sich tapfer zu einem Lächeln. »Nichts Ernstes.«
»Du solltest dich in Kansas City noch mal von einem Arzt untersuchen lassen. Nur zur Vorsicht.«
»Ja, in Kansas City.« Wieder suchten Ben Millers Augen das vor ihm liegende Land ab. »Wenn wir nur schon da wären.«
Seine Frau warf ihm einen weiteren besorgten Blick zu. »Du hörst dich an, als hättest du vor etwas Angst, Ben.«
Der Mann wollte seinen Kopf schütteln, unterließ es aber im letzten Augenblick. »Nicht vor etwas Bestimmtem. Nur vor den Gefahren, die in dieser unruhigen Zeit überall lauern. Manchmal denke ich, wir sollten aus diesem Land verschwinden und uns einem der Trecks anschließen, die von Kansas City ins Oregon-Gebiet fahren.«
»Auch da lauern überall Gefahren«, wandte die Frau ein.
»Ja. Aber die Menschen fallen nicht wie hungrige Wölfe übereinander her, nur weil sie verschiedene politische Ansichten vertreten.«
Eine Weile ritt Ben Miller schweigend neben dem Wagen her und hing seinen Gedanken nach.
Bis seine Frau sagte: »Ben, ich glaube, da kommt uns ein Reiter entgegen! Ist es Johnny?«
Diesmal hielt der Farmer sein Pferd nicht an, kniff nur erneut die Augen zusammen und legte wieder die Hand an die Hutkrempe. Ja, ein Reiter näherte sich dem Wagen, aber auf die Entfernung konnte er ihn nicht erkennen. Ben Miller hätte nicht mal zu sagen vermocht, ob es ein Weißer, ein Schwarzer oder ein Roter war.
Der Reiter ritt sehr schnell und verschwand hinter einem Baumgürtel. Wenn er wieder auftauchte, würde er in Schußweite sein.
Der Farmer war vorsichtig geworden. Er zog den von ihm stets gut gepflegten Gallagher-Hinterlader aus dem Scabbard und legte den Karabiner quer vor sich über den Sattel.
»Halte den Wagen an und geh hinein zu den Mädchen«, sagte er zu seiner Frau.
Agnes zügelte die Pferde und zog die knarrende Bremse fest. Aber sie kletterte nicht zu ihren Töchtern unter die Plane, sondern griff hinter sich und holte den Richmond-Karabiner hervor, der einem der verwundeten Quantrill-Männer gehört hatte.
»Was tust du?« fragte Ben stirnrunzelnd.
»Das siehst du doch«, antwortete seine Frau, während sie den Hahn spannte. »Ich stehe meinem Mann bei.«
Ben murmelte etwas Unverständliches in seinen Stoppelbart, aber ein stilles Lächeln glitt über sein Gesicht. Er war stolz und glücklich, daß er sich stets auf seine Familie verlassen konnte. Wenn das ein Mann in diesem wilden Land nicht konnte, besaß er schlechte Karten.
Der Reiter tauchte hinter den Bäumen auf und schwenkte seinen Hut. Jetzt erkannten die Millers ihn und auch sein Pferd mit dem rötlich schimmernden Fell.
»Es ist Johnny!« stieß Agnes erleichtert hervor und ließ vorsichtig den Hahn ihres Karabiners zurückgleiten, um die Waffe wieder in der Ablage hinter dem Bock zu verstauen.
Auch ihr Mann steckte seine Gallagher zurück ins Leder des Scabbards.
Johnny Miller zügelte sein Tier kurz vor dem Wagen und sagte aufgeregt: »Sie haben Cody, und sie kommen direkt auf uns zu!«
»Wer?« fragte sein Vater.
»Ich weiß es nicht. Drei Männer. Sie haben es eilig und führen zwei zusätzliche Pferde mit sich. Es sind die Pferde, mit denen Cody losgeritten ist. Über einem von ihnen liegt er.«
»Ist er tot?«
»Keine Ahnung. Das konnte ich nicht feststellen. Ich hatte gerade in einem Waldstück angehalten, um einen Stein aus einem Hufeisen zu pulen, als ich ihr Hufgetrappel hörte. Sowie ich Cody und die Pferde erkannte, habe ich mich davongemacht.«
Sie konnten die von Johnny beschriebene Gruppe jetzt sehen. Im schnellen Schritt kam sie auf den Planwagen zu.
»Wenn wir Glück haben, sind wir noch nicht entdeckt worden«, sagte der Farmer. »Immerhin dürften die Fremden, wer immer sie sein mögen, nicht mit uns rechnen.« Er zeigte auf den nächsten Baumgürtel. »Fahr den Wagen hinter die Bäume, Agnes.«