Lord Jakob Wolf starrte auf die todbringenden Öffnungen, dann wandte er den Blick ab. Sie waren nichts Neues mehr, und er hatte drängendere Sorgen. Der Ruf der Herrscherin an den Hof war unvermutet gekommen und wenig informativ gewesen, selbst für ihre Geflogenheiten. Ihm war kaum eine Stunde Zeit geblieben, um sich vorzubereiten. Und das bedeutete, daß, was auch immer der Grund für die überraschende Audienz sein mochte, es sowohl dringend als auch von Bedeutung sein mußte. Möglicherweise hatte Löwenstein einen weiteren Verräter entdeckt, jemanden, der weit genug oben in der Hierarchie stand, so daß sie die Anwesenheit des gesamten Hofes wünschte, während sie ihn verhörte und
anschließend exekutierte – als Botschaft und Warnung an alle, die vielleicht Intrigen spannen oder Ränke schmiedeten. Löwenstein XIV. war eine begeisterte Anhängerin des Statuierens von Exempeln und der Demonstration von Macht. Und
Verräter gab es immer. An manchen Tagen war der Besuch bei Hofe wie russisches Roulette, ohne daß man wußte, wie viele Kugeln noch in der Trommel des Revolvers steckten.
Aber wenn es sich wirklich um eine hochstehende Persönlichkeit handelte, dann hätte Wolf andererseits schon etwas davon hören müssen. Der Wolf besaß hervorragende Verbindungen auf allen Ebenen. Alle Lords besaßen hervorragende Verbindungen auf allen Ebenen, jedenfalls wenn sie Lords bleiben wollten.
Es war nicht unbedingt notwendig, dem Hof persönlich beizuwohnen. Man konnte jederzeit sein Holobild schicken. Die vorhandene Technologie erlaubte den Eliten vollständigen Zugriff auf alles, was geschah, ohne das Risiko eingehen zu müssen, daß ihnen selbst etwas zustoßen konnte. Allerdings wurden traditionsgemäß nur diejenigen zur Herrscherin vorgelassen und von ihr angehört, die auch persönlich erschienen waren. Wenn man wollte, daß seine Stimme zählte, dann hatte man dort zu sein. Außerdem lag ein gewisses Risiko darin, als Holo am Hof zu erscheinen. Löwenstein IV. konnte es als persönliche Beleidigung interpretieren, wenn ein Lord seiner Imperatorin nicht zutraute, für seine Sicherheit zu sorgen. Es war nicht gut, die Herrscherin auf dumme Gedanken zu bringen. Sie hatte eh schon viel zu viele davon.
Deshalb saßen der Wolf und sein Sohn Valentin auf dem Weg zum Hof allein in ihrem Abteil, unbewaffnet und ohne Leibwächter, um einer Audienz am Hof beizuwohnen und sich etwas anzuhören, das sie wahrscheinlich gar nicht hören wollten.
Jakob Wolf war ein Stier von einem Mann, mit breiten Schultern und einer faßförmigen Brust, die einem professionellen Gladiator alle Ehre gemacht hätte. Er trug die Haare kurz geschoren, hielt sein Gesicht auf dem Stand eines Mannes Mitte Vierzig und ignorierte im übrigen stur allen modischen Firlefanz. Sein Kinn ragte kühn hervor, als wollte es den Betrachter zu einem Kommentar herausfordern. Seine Augen waren dunkel und durchdringend, und es war schon beinahe eine Frage des Prinzips, daß er nie als erster den Blick senkte. Der Wolf besaß Hände wie Schraubstöcke, groß, grobschlächtig und meist zu Fäusten geballt. Seine Stimme war wie ein Gewittergrollen. Der Wolf hatte eine Menge Zeit und Überlegung in das Bild gesteckt, das er nach außen hin abgab, und er war insgeheim sehr zufrieden mit dem Resultat.
Es beseitigte bei seinen Gesprächspartnern vom ersten Augenblick an jeden Zweifel, daß er kein Mann war, mit dem man spielen konnte.
Jakob Wolf war einhundertdrei Jahre alt, aber dank der wissenschaftlichen Errungenschaften des Imperiums hätte man den jungen Mann, der neben ihm saß, leicht für seinen Bruder anstatt seinen Sohn halten können. Allerdings hätte ein Fremder auch keinerlei familiäre Ähnlichkeit zwischen den beiden feststellen können.
Valentin Wolf war groß, schlank und von der Empfindlichkeit einer Treibhausblume, die rüde aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen worden war. Sein Gesicht war lang und schmal, die Haut mehr als modisch blaß, und sein schwarzer Schopf fiel gelockt bis auf die Schultern herab. Dicke Maskara betonte seine ungewöhnlich hellen Augen, und ein aufgemaltes purpurnes Lächeln verbarg seine Gefühle vor allem und jedem. Valentin besaß die Hände eines Künstlers, mit langen, schlanken Gliedern und weit ausholender Gestik, und wenn er sich für etwas begeisterte, dann flatterten sie an seinem Mund wie aufgescheuchte Tauben in der Nacht.
Valentin Wolf war am Hof und auch außerhalb dafür bekannt, daß er jede Droge ausprobiert hatte, die der Menschheit bekannt war – und einige mehr, die er sich speziell hatte anfertigen lassen. Wenn man es rauchen oder schnüffeln konnte
– oder es sich irgendwo hineinstecken, wohin die Sonne nicht schien –, dann hatte er es erstens ausprobiert und zweitens genossen. Man erzählte sich allen Ernstes, daß Valentin noch nie auf eine Chemikalie gestoßen wäre, die er nicht gemocht hätte. Für diejenigen, die ihn kannten, erschien es wie ein Wunder, daß Valentin sein Gehirn nicht bereits vor langer Zeit geröstet hatte – aber wie durch irgendeinen dunklen, geheimnisvollen Zauber blieb sein Verstand scharf und gefährlich. Er hatte die üblichen Feinde eines Mannes in seiner Position und wirkte ganz so, als wollte er sie alle überleben. Und obwohl er sich aus sämtlichen höfischen Intrigen und Ränken heraushielt, besaß er dennoch einen subtilen, ja geradezu böswilligen Einfluß auf diejenigen, die das nicht taten. Valentin mochte eine empfindliche Treibhauspflanze sein, aber seine Dornen waren in höchstem Maße giftig.
Valentin zog eine silberne Pillenschachtel hervor, entnahm ihr ein kleines Pflaster und preßte es an seine Halsschlagader.
Das aufgemalte Grinsen verbreitete sich zu einer klaffenden purpurnen Wunde, und sein Vater räusperte sich mißbilligend.
»Muß das jetzt sein? Wir werden bald am Hof ankommen, und wir werden all unseren Verstand bitter nötig haben.«
»Nur ein kleines, harmloses Beruhigungsmittel, Vater.« Valentins Stimme klang beherrscht, freundlich und nur eine Spur zu verträumt. »Sei versichert, daß ich dir mit all meinen Fähigkeiten zur Seite stehen werde. Wenn ich noch konzentrierter wäre, würden meine Synapsen zusammenbrechen. Aus welchem Grund vermutest du, daß Ihre Imperiale Majestät, lang möge sie leben, deine Gesellschaft wünscht?«
»Wer kennt in diesen Tagen schon die Beweggründe der. Eisernen Hexe? Ich habe in dieser verdammten letzten Woche mehr Zeit als normalerweise in einem ganzen Monat damit vergeudet, in diesen verfluchten Todesfallen hin und her zu reisen. Sie verhält sich nicht wie gewöhnlich, und all meine üblichen Informationsquellen sind entweder ins buchstäbliche Nichts verschwunden oder haben unerwartete Skrupel entwickelt. Ich habe den kleinen Scheißkerlen jahrelang gutes Geld bezahlt, und genau in dem Augenblick, wo ich sie wirklich brauche, brechen sie zusammen. Wenn ich in einem Stück vom Hof zurückkomme, dann werden Köpfe rollen, mein Junge, und das meine ich nicht metaphorisch. Die Eiserne Hexe hat etwas vor, das spüre ich. Etwas, das der Versammlung der Lords nicht schmecken wird, und sie veranstaltet diese Mätzchen nur, um uns abzulenken und in Atem zu halten. Sie verschleiert etwas. Das sind alles nichts als verbale Taschenspielertricks. Aber was plant sie? Sei auf der Hut, mein Junge! Eines Tages wirst du, obwohl ich es nur ungern eingestehe, das Oberhaupt der Familie sein, und ich will nicht, daß man hinterher sagt, ich hätte nicht alles in meiner Macht Stehende getan, um dich gründlich auf diesen Tag vorzubereiten.«