Entschieden drängte er den Gedanken beiseite. Owen konnte sich nicht erlauben, dem nachzutrauern, was er einst gewesen war, sonst würde er noch verrückt werden. Er konzentrierte sich statt dessen auf Abraxus. Wahrscheinlich war es einer dieser professionellen Informationsbeschaffer, mit Boten, Angestellten und Kommunikationsleuten, die alle Informationen durch irgendeinen primitiven Lektron schickten. Owen haßte den Gedanken an den veralteten Müll, den sie in diesem Loch benutzen würden. Trotzdem. Jemand mit einem Ruf wie Jakob Ohnesorg sollte relativ einfach aufzuspüren sein. Nicht, daß Nebelhafen eine besonders große Stadt gewesen wäre.
Außerdem hatte Ozymandius die Adresse auch in seinen Datenspeichern gefunden, woraus sich eine Verbindung irgendeiner Art zwischen Abraxus und den verschlungenen Intrigen seines Vaters herleiten ließ. Owen seufzte erneut. Er hatte die meiste Zeit seines Erwachsenendaseins damit verbracht, sich ein eigenes Leben aufzubauen und sich nicht in die Pläne und Ambitionen seines Vaters verwickeln zu lassen, und hier stand er und versank mit jedem weiteren Schritt tiefer und tiefer in das Vermächtnis seines Vaters.
Er bemerkte gerade noch rechtzeitig, daß Hazel auf dem oberen Treppenabsatz stehengeblieben war, um sie nicht anzurempeln. Owen legte die Hand um den Griff seines Schwertes, als seine Gefährtin mehr oder weniger freundlich an die verschlossene Tür vor sich klopfte. Auf einer Messingplatte an der Tür stand der Name Abraxus, sonst nichts. Keine Klingel, kein Türklopfer. Hinter der Tür schien sich nichts zu regen. Hazel war schon im Begriff, mit der geballten Faust gegen die Tür zu hämmern, als sie plötzlich aufgerissen wurde und ein muskulöser Mann, beinahe so breit wie hoch, den Rahmen ausfüllte. Er war ganz in schwarzes Leder mit metallenen Nieten gekleidet, und die eine Hälfte seines Gesichts wurde von einer komplizierten, häßlichen Tätowierung verunstaltet. Er blickte Hazel und Owen schweigend an und zog laut und unbeeindruckt die Nase hoch.
»Hazel d’Ark und Owen Todtsteltzer? Wurde allmählich aber auch Zeit, daß Ihr kommt. Ich warte schon die ganze Zeit auf Euch.«
Hazel und Owen waren sich noch nicht sicher, wie sie auf diese Neuigkeit reagieren sollten, als die große Gestalt aus dem Türrahmen ins Innere des Gebäudes zurücktrat und den beiden ungeduldig winkte einzutreten. Zögernd leisteten sie der Aufforderung Folge, nicht ohne einen gebührenden Abstand zu dem Hünen einzuhalten. Der Mann zog erneut die Nase hoch, als er die Tür hinter den beiden wieder ins Schloß warf und verriegelte. Owen wollte bereits seinen Disruptor ziehen, aber Hazel legte ihm die Hand auf den Arm. Die große Gestalt stapfte vor ihnen her und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die wahrscheinlich ein Lächeln darstellen sollte.
»Ich bin Chance. Ich bin der Inhaber von Abraxus. Seht Euch ruhig schon mal um, ich bin in einer Minute wieder für Euch da.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand er im hinteren Bereich des Zimmers. Owen brannten einige Fragen auf der Zunge, aber als er den ersten Blick in das Zimmer und auf die Leute warf, die das Informationszentrum betrieben, vergaß er sie wieder. Es gab keine Lektronen oder Komm-Einrichtungen, keine Boten und keine Techniker. Statt dessen standen an den Wänden des schmalen Raums zwei Reihen klappriger Kojen, dicht an dicht, die in der Mitte nur noch einen schmalen Gang freiließen. Auf den Kojen lagen schlafende Kinder. Sie alle hatten Infusionsnadeln in den Armen, obwohl ihre knochigen Gesichtszüge und skelettartigen Gestalten vermuten ließen, daß sie nicht besonders viel Nahrung aus den Infusionen bezogen. Unter den Decken, in die die Kinder eingewickelt lagen, ragten Katheter hervor und mündeten in dreckigen Flaschen auf dem Fußboden. Wie lange mögen diese unglücklichen Kreaturen bereits so hier liegen? , dachte Owen und näherte sich zögernd, um einen genaueren Blick auf eines der Kinder zu werfen. Hazel blieb dicht an seiner Seite.
Die Kinder schienen alle zwischen vier oder fünf bis allerhöchstens zehn Jahre alt zu sein. Sie wanden sich und stöhnten in ihrem Schlaf oder Koma. Ihre Gesichter schienen irgendwie konzentriert, aufmerksam, und unter den geschlossenen Lidern konnte man sehen, wie die Augen sich bewegten.
Einige Kinder murmelten leise vor sich hin. Zwei Frauen im mittleren Alter, die eher wie Putzfrauen als wie Krankenschwestern aussahen, bewegten sich ohne besondere Eile zwischen den Bettenreihen hindurch, überprüften Katheter und Infusionsnadeln, füllten die Infusionsflaschen auf oder leerten sie, wo es notwendig war; ansonsten beachteten sie die Kinder überhaupt nicht. Einige waren mit dicken Lederriemen an ihre Betten gefesselt.
Owen fühlte sich elend, und in ihm brannte eine rasch zunehmende Wut. Er verstand nicht, was hier vor sich ging, aber er mußte es auch nicht verstehen, um es zu hassen. Kein Mensch hatte das Recht, Kinder so grausam zu behandeln.
Mit einem rauhen, rasselnden Geräusch sprang das Schwert wie von alleine in seine Hand, und mit Mord in den Augen setzte er sich durch den schmalen Gang in Bewegung. Chance war am anderen Ende des Raums damit beschäftigt, einen Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch zu durchwühlen. Er blickte nicht auf, als Owen auf ihn zustapfte. Plötzlich ergriff Hazel seinen Schwertarm und hielt ihn fest.
»Warte, Owen! Du verstehst das nicht!«
»Ich verstehe, daß diese Kinder in einer schrecklichen Hölle leben!«
»Ja, vielleicht hast du recht. Aber dahinter steckt ein Sinn.
Ich habe so etwas schon früher gesehen.«
Owen hob sein Schwert und senkte es zögernd wieder. »Also gut. Erklärt es mir.«
»Chance kann das bestimmt viel besser. Bleib hier stehen.
Ich hole ihn. Versprich mir, daß du nichts unternimmst, bevor du nicht die ganze Geschichte gehört hast.«
»Keine Versprechungen«, erwiderte Owen. »Holt Chance.
Und sagt ihm lieber gleich, daß ich ihm an Ort und Stelle den Schädel abschlagen werde, wenn mir seine Antworten nicht gefallen.«
Hazel klopfte ihm beruhigend auf den Arm, als wolle sie einen unartigen Hund besänftigen, und eilte durch den Mittelgang zu Chance. Owens Hand umklammerte noch immer
wütend und frustriert den Griff seines Schwertes. Er hatte noch nie zuvor etwas wie das hier gesehen, selbst in den schlimmsten Höllenlöchern des Imperiums nicht, und er wollte verdammt sein, wenn er diesem Treiben nicht unverzüglich Einhalt gebot. Langsam wanderte er den Gang hinunter und blickte von einer Gestalt zur anderen. Er sah nichts als Verzweiflung in den hageren Gesichtern. Ein junger Bursche bewegte sich unruhig unter den Lederfesseln, die ihn ans Bett banden, und murmelte grimmig vor sich hin. Owen beugte sich vor, um der leisen, hauchigen Stimme zu lauschen.
»Mutige Bemerkungen trotz schreiender Schocks… die bleichen Harlekine sind wieder unterwegs… Liebling hat seine Schuhe verloren… Mönche tanzen behutsam um den Sommerstein…«
Owen richtete sich wieder auf. Er war verwirrt. Es war ganz eindeutig Unsinn, was der Junge von sich gab, aber Owen hatte das merkwürdige Gefühl, daß alles einen Sinn ergeben würde, wenn er nur lange genug zuhörte. Er hob den Blick und sah, wie Hazel zusammen mit Chance zurückkehrte. Unwillkürlich hob er seine Waffe ein wenig. Die beiden blieben in respektvoller Entfernung vor Owen stehen, obwohl Hazel vom Anblick seiner Waffe stärker beeindruckt zu sein schien als Chance. Owen lächelte den großen Mann kalt an. Es spielte keine Rolle, wie groß oder stark er sein mochte oder was er zu seiner Entschuldigung sagen würde. Jemand mußte für das Verbrechen bezahlen, das an den Kindern begangen worden war.