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»Die Ledergurte dienen ihrem eigenen Schutz«, erklärte Chance. Seine Stimme klang flach und unbeeindruckt. »Die Kinder sind Esper, aber sie kommen nicht immer mit dem klar, was ihr Bewußtsein ihnen enthüllt. Einer der Jungen hat sich die Augen ausgekratzt, um nicht mehr sehen zu müssen.

Deshalb gehe ich keinerlei Risiko mit ihnen ein. All diese Kinder sind auf die eine oder andere Weise zurückgeblieben.

Idioten, die die Gaben grenzenloser Erinnerungen und weitreichender Telepathie besitzen. Ihr Bewußtsein streift frei und losgelöst durch die Stadt, während ihre Körper hier ruhen. Sie fischen in den Gedanken der Einwohner und picken die Klumpen an Informationen heraus, die ich benötige.

Ihre Familien verkaufen sie an mich, wenn sie nicht länger imstande sind, für ihre Kinder zu sorgen, und ich lasse sie für mich arbeiten. Auf Nebelwelt gibt es keinen Platz für die, die schwach sind oder behindert. Wären die Kinder keine Esper und damit möglicherweise nützlich, hätte man sie einfach in der Kälte ausgesetzt und sterben lassen. Aber so kümmere ich mich um sie, und sie kümmern sich um mich. Nur wenige halten längere Zeit durch. Wenn sie zu mir kommen, haben sie bereits ein hartes, brutales Leben hinter sich. Zum Glück gibt es immer genug Nachschub, um die zu ersetzen, die ausbrennen und sterben. Seht mich nicht so an, Todtsteltzer! Ich sorge für die Kinder, solange sie bei mir sind. Was davor mit ihnen geschehen ist und was danach kommt, liegt außerhalb meines Einflusses.

Vielleicht können wir jetzt zum geschäftlichen Teil kommen. Meine Kinder haben mir berichtet, daß Ihr kommen würdet, und sie haben mir auch den Grund verraten. Ihr habt nicht viel Zeit. Wenn meine Esper schon von Eurem Kommen wissen, dann könnt Ihr Gift darauf nehmen, daß auch andere Bescheid wissen. In Nebelhafen gibt es keine verdammte Privatsphäre. Das ist die Strafe dafür, daß man in einer Stadt voller Telepathen mit lockerem Mundwerk lebt. Natürlich habe ich keinerlei Grund, mich deswegen zu beschweren – wie Ihr Euch sicher denken könnt. Immerhin lebe ich davon, und das gar nicht schlecht. Macht Euch keine Gedanken wegen meiner Bezahlung. Der vorherige Lord Todtsteltzer hat ein Guthaben bei uns. Er hinterließ mir Anweisungen für den Fall, daß Ihr Euch jemals hier blicken lassen und um Hilfe nachsuchen würdet. Ich soll Euch bei Eurer Suche nach Jakob Ohnesorg behilflich sein und Euch zu ihm führen. Wollt Ihr Euch für den Rest des Tages an Eurem Schwert festhalten, Todtsteltzer? Oder werdet Ihr uns erlauben, daß wir Euch helfen?«

»Ich denke noch darüber nach«, entgegnete Owen schroff.

»Wie erklärt sich Eure Verbindung zu meinem Vater?«

»Er hat Abraxus erst ermöglicht. Es war meine Idee, aber sein Geld. Er sah die Vorteile einer solchen Einrichtung. Für das von ihm zur Verfügung gestellte Geld mußte ich nur alle Informationen, die meine Kinder ans Licht brachten, an ihn weiterleiten. Euer Vater war ein weit vorausschauender Mann, Todtsteltzer, und immer bereit zu einem Experiment.«

»Er war immer bereit, seinen Profit aus allem zu schlagen«, erwiderte Owen. Zögernd steckte er sein Schwert weg. »Üblicherweise zum Nachteil von Dritten. Wie viele Kinder sind hier gestorben, seid Ihr Abraxus ins Leben gerufen habt?«

»Zu viele. Aber sie wären so oder so gestorben. Ich halte sie am Leben, so lange ich irgendwie kann. Es liegt in meinem eigenen Interesse.«

Owen wechselte einen Blick mit Hazel. »Ihr wart die ganze Zeit über sehr still. Erzählt mir nicht, daß Ihr diese Obszönität gutheißt.«

»Du bist hier auf Nebelwelt, Aristo«, erwiderte Hazel freundlich. »Hier sind die Dinge anders. Wenn dir die Menschen hier manchmal kalt und herzlos erscheinen, dann liegt es daran, daß sie außerhalb des Imperiums überleben müssen.

Wenn sie jemals schwach werden sollten, und sei es nur für einen Augenblick, dann löscht die Eiserne Hexe sie bis auf den letzten Mann, die letzte Frau und das letzte Kind aus. Anderen Planeten ist es bereits so ergangen. Das weißt du selbst.«

Owen wandte den Blick ab. Seine Augen bewegten sich über die schlafenden Körper, und ein Gefühl bitterer Hilflosigkeit breitete sich in ihm aus.

»Fragt sie«, erwiderte er am Ende brüsk, »… fragt sie, wo sich Jakob Ohnesorg aufhält.«

Chance nickte und schlenderte durch den Mittelgang davon, wobei er von einer Seite zur anderen blickte, hier und da anhielt und ein besonders verzerrtes Gesicht musterte, bevor er weiterging. Schließlich blieb er vor dem Lager eines Knaben stehen, der nach seinem Aussehen vielleicht zwölf Jahr alt sein mochte. Der junge Esper war bis auf die Rippen abgemagert, und auf seinem knochigen Gesicht zeichnete sich eine dünne Schweißschicht ab. Er murmelte Unverständliches vor sich hin, schnell, atemlos, und sein Kopf rollte rastlos von einer Seite zur anderen. Irgendwie hatte er es trotz der ledernen Fesseln geschafft, die Infusionsnadel aus seinem Arm zu reißen, und Chance führte die Nadel gekonnt wieder ein.

Dann kniete er neben dem Bett nieder und brachte seinen Mund ganz dicht an das Ohr des Jungen. Langsam und sanft begann er zu dem Jungen zu sprechen, und seine leise Stimme schien den Esper ein wenig zu beruhigen. Er hörte auf zu murmeln, den Kopf hin und her zu werfen und kämpfte nicht mehr gegen die ledernen Fesseln. Seine Augen öffneten sich, aber sie starrten ins Leere. Sie sahen nichts – oder vielleicht alles. Hazel und Owen setzten sich in Bewegung, und Chance gestikulierte wütend, daß sie gefälligst bleiben sollten, wo sie waren. Er nahm einen kleinen Gegenstand aus einer seiner Taschen und wickelte ihn aus dem Papier, dann steckte er ihn in den Mund des Knaben. Owen dachte im ersten Augenblick an eine Pille und erkannte erst allmählich an den langsamen Kieferbewegungen des Jungen, daß es ein Bonbon gewesen sein mußte. Chance beugte sich wieder zu dem Ohr des Espers hinunter und sprach weiter.

»Komm schon, Johnny. Du kannst es. Tu es für mich, ja?

Ich habe noch so einen Leckerbissen für dich, hier, sieh mal.

Finde mir einfach nur den Mann, Johnny. Finde den Mann, der sich Jakob Ohnesorg nennt.«

Chance murmelte ununterbrochen weiter, ohne je die Stimme zu heben, ohne eine Pause zu machen, leise, ruhig, beständig, und nach einiger Zeit begann der Knabe mit klarer, fester Stimme zu sprechen.

»Du suchst den Rebell, den Namen, den man überall kennt, den Kämpfer gegen das System, aber er ist nicht zu finden.

Jakob Ohnesorg hat einen neuen Namen, und er führt ein anderes Leben. Die Bluthunde des Imperiums kamen zu oft zu nahe, und er hat den Kopf eingezogen. Such in seinem Loch nach ihm, in seinem Versteck. Geh zum Olympus-Sportpalast unten im Uferviertel und frag dort nach Jobe Eisenhand. Er wird nicht mit dir reden wollen, also liegt es an dir, ihn zu überzeugen.« Unvermittelt brach er ab und wandte den Kopf zu Owen und Hazel. Er musterte die beiden mit seinen allwissenden Augen und fuhr fort: »Ich sehe dich, Owen Todtsteltzer. Das Schicksal hält dich in seinen Fängen, so sehr du dich auch sträubst. Du wirst ein Imperium zu Fall bringen, und du wirst das Ende von allem erleben, an das du je geglaubt hast.

Du wirst alles aus Liebe tun, einer Liebe, die du nie erfahren wirst. Und wenn es vorüber ist, dann stirbst du – allein, weit weg von allen Freunden und ohne Beistand oder Hilfe.«

»Das reicht, Johnny«, unterbrach ihn Chance. Der Esper schloß seine beunruhigenden Augen wieder und wandte den Kopf ab. Seine Worte wurden wieder zu dem leisen, bedeutungslosen Gemurmel, das sie vor Chances Fragen gewesen waren. Chance erhob sich und kehrte zu Owen und Hazel zurück. »Schenkt dem wirren Geplapper am Schluß nicht zu viel Beachtung«, sagte er. »Einige meiner Kinder behaupten steif und fest, Blicke auf die Zukunft zu erhaschen, jedenfalls hin und wieder, aber ihre Prophezeiungen haben sich genauso häufig als falsch wie als richtig erwiesen. Ansonsten wäre ich inzwischen ein steinreicher Mann.«