Auch sein Hunger war plötzlich verschwunden.
Er drehte der Theke den Rücken zu und blickte sich im Gastraum um. Der Tollwütige Wolf erschien ihm als genau die Sorte von Lokal, von der seine Lehrer immer gesagt hatten, daß er eines Tages dort enden würde, wenn er seine Hausaufgaben nicht mit größerem Fleiß erledigte. Eine derartige Ansammlung von Strauchdieben, Lügnern, Mördern und Verlierern hatte er seit seinem letzten Besuch am Hof von Golgatha nicht mehr zu Gesicht bekommen. Keiner von ihnen schien besonders sauber zu sein, und Owen überkam die plötzliche Gewißheit, daß sie alle Flöhe haben mußten. Im gleichen Augenblick begann es an seiner Seite unter dem Hemd zu jucken, aber er verkniff sich den Wunsch zu kratzen, damit niemand auf den Gedanken kommen konnte, er würde nach seinem Schwert greifen. Nicht, daß er sich vor diesem Gesindel gefürchtet hätte. Natürlich nicht. Er war schließlich der Todtsteltzer. Aber die Verteilung der Kräfte gefiel ihm einfach nicht, genausowenig wie die große Entfernung zum Ausgang.
Eine handvoll Damen der Nacht – oder, um genauer zu sein, des späten Spätnachmittags – hatte sich am anderen Ende der Theke versammelt. Sie steckten in auffälligen, grellbunten ›Arbeitskleidern‹ und stritten sich heftig über eine große Geldbörse, die sie wahrscheinlich dem Mann abgenommen hatten, der neben ihnen mit dem Kopf auf der Theke schlief.
Owen mußte zugeben, daß die Frauen auf eine schlampige, verdorbene Weise attraktiv wirkten, und in seinem Verstand und an gewissen Stellen seines Körpers begann sich etwas zu rühren. Vielleicht war der Tollwütige Wolf gar kein so mieser Laden. In diesem Augenblick zog eine der Frauen ein Messer und stach einer anderen mitten in die gutentwickelte Brust.
Das Opfer erschlaffte und brach zusammen, und die Mörderin schnappte die Börse von der Theke. Die anderen Frauen dachten wahrscheinlich, das wäre die lustigste Geschichte, die sie jemals erlebt hatten – jedenfalls kreischten sie vor Vergnügen.
Owen blickte sehnsüchtig zum Ausgang und faßte den Entschluß, jeden auf der Stelle zu erschießen, der ihn auch nur schief anblickte. Ganz besonders, wenn es sich dabei um eine Frau handeln sollte. Plötzlich tauchte Hazel neben ihm auf, und er wäre vor Schreck beinahe aus der Haut gefahren.
»Was ist los mit dir?« wollte sie wissen.
»Was mit mir los ist? Das ist der scheußlichste, verrufenste und ausgemacht schäbigste Ort, den ich je das Pech hatte zu besuchen, das ist mit mir los! Wenn man das Wort ›anrüchig‹
im Wörterbuch nachschlagen würde, dann würde dort als Erklärung stehen: siehe Tollwütiger Wolf. Bringt mich hier raus, bevor ich mir noch was einfange!«
»So schlecht ist der Laden auch wieder nicht«, widersprach Hazel. »Jedenfalls für Nebelhafen. Als ich noch jünger war, bin ich oft hiergewesen. Sicher, ich hatte damals noch keine Ansprüche. Manchmal wird es ein wenig laut, und die Kundschaft gehört vielleicht auch nicht gerade zur Oberschicht, aber auf der anderen Seite war es wirklich nie langweilig.«
»Langeweile kann manchmal auch ihre guten Seiten haben, wißt Ihr?« sagte Owen. »Was habt Ihr über Ruby Reise herausgefunden?«
Hazel zog ein mürrisches Gesicht. »Ruby hat nur kurze Zeit hier gearbeitet, dann hat man sie wegen übermäßiger Gewalttätigkeit wieder rausgeworfen. Was für eine Kneipe wie diese hier schon eine Menge heißen will. Sie haben keine Ahnung, wo Ruby jetzt steckt.«
»Bedeutet das, daß wir endlich von hier verschwinden können?« fragte Owen hoffnungsvoll.
»Du magst den Laden wirklich nicht, wie?« erwiderte Hazel grinsend. »Gewöhnst du dich nicht allmählich an das Ambiente?«
»Wenn ich mich je daran gewöhne, will ich tot umfallen«, sagte Owen mit Bestimmtheit. »Außerdem werde ich allein schon von dem Zeug krank, das hier in der Luft schwebt. Ich hatte schon Pickel am Hintern, die angenehmer waren…«
Hazel deutete auf eine der Damen am Ende der Theke.
»Sieht so aus, als gefällst du ihr.«
»Lieber gehe ich in ein Kloster.«
Und genau in diesem Augenblick brach eine wüste Schlägerei los. Owen konnte nicht sehen, wer angefangen hatte oder was es für einen Grund gab, aber ganz plötzlich schien jeder in der Kneipe mit Schwertern, Messern, abgeschlagenen Flaschen oder Stuhlbeinen gegen jeden zu kämpfen. Der Krach war nicht zum Aushalten. Schlachtrufe, Schreie und Flüche erfüllten die Luft. Blut spritzte in alle Richtungen, und wer fiel, wurde von den anderen totgetrampelt. Owen zog das Schwert und wich bis zur Theke zurück. Diskretion war in der Regel besser als Tapferkeit, einer der wenigen Leitsätze, die er von seinen Lehrern gelernt hatte. Oder, mit anderen Worten: Nur ein Idiot läßt sich in die Auseinandersetzungen anderer hineinziehen. Er blickte zu Hazel und zuckte zusammen.
Sie grinste breit beim Anblick des Chaos’ und schien die Szene aus vollen Zügen zu genießen. Sie sah aus, als wolle sie sich jeden Augenblick in den Kampf werfen und mitmachen.
Owen packte sie am Arm, aber erst als er ihr ins Ohr schrie und sie in Richtung des Ausgangs schob, erlangte er ihre Aufmerksamkeit. Hazel nickte enttäuscht, und Rücken an Rücken bewegten sie sich mit gezückten Schwertern zur Tür.
Ein paar verwegene Individuen versuchten sie am Weggehen zu hindern, aber als sie die offensichtliche Kompetenz bemerkten, mit der Owen und Hazel ihre Waffen schwangen, zogen sie es vor, lieber wieder bei der allgemeinen Schlägerei mitzumachen. Die beiden erreichten unangefochten die Tür und stolperten über den bewußtlosen Türsteher nach draußen in die Gasse. Hier draußen schien alles sehr ruhig und friedlich zu sein, obwohl der Krach aus der Kneipe ununterbrochen weiter dröhnte. Owen beruhigte sich nach und nach und steckte sein Schwert weg.
»So weit, so gut. Laßt uns von hier verschwinden, bevor das Gesetz eintrifft.«
»Das Gesetz? Machst du Witze, Todtsteltzer? Nur Grünschnäbel lassen sich hier blicken. Die Wachen ziehen es vor, dieses Viertel zu meiden, wenn nicht gerade ein Aufstand ausbricht.«
»Und das hier ist natürlich keiner?«
»Wohl kaum, Todtsteltzer. Ein paar Hitzköpfe, das ist alles.
Es ist genauso schnell wieder vorbei, wie es angefangen hat.
Du mußt lernen, die Dinge gelassener anzugehen, Owen Todtsteltzer. Nebelhafen ist nicht so schlecht, wie du denkst.
Es tendiert halt ein wenig zum Theatralischen.«
Das zugenagelte Fenster neben ihnen schien plötzlich nach außen zu explodieren, und eine Gestalt kam hindurchgeflogen. Owen und Hazel wichen instinktiv zurück, gerade rechtzeitig, um einem zweiten Flieger auszuweichen. Der zweite flog nicht ganz so schnell wie der erste und krachte in eine Schneewehe kurz hinter dem zerbrochenen Fenster. Stöhnend taumelte er auf die Beine, schwankte einen Augenblick unsicher und näherte sich dann vorsichtig dem Fenster.
»Ich möchte mich entschuldigen.«
»Wofür?« erklang eine fragende Stimme aus dem Innern.
»Für alles.«
Dann setzte er sich in Bewegung und ging langsam und vorsichtig die Gasse hinunter, als wäre er nicht ganz sicher, daß alles fest und heil und da war, wo es sein sollte. Owen und Hazel grinsten sich an und setzten sich ebenfalls in Bewegung. Oben auf einem schrägen Dach, von dem aus man den Tollwütigen Wolf im Auge hatte, beobachtete Katze mit einem Gefühl der Erleichterung, wie die beiden endlich gingen.
Er hatte sich leichte Sorgen gemacht, als sie die Spelunke tatsächlich betreten hatten, und größere Sorgen, als die Schlägerei ausgebrochen war – er hatte nämlich nicht die Absicht, in diesen Laden zu gehen, ganz egal, was den beiden dort drinnen zustoßen mochte. Es gab schließlich Grenzen.
Im letzen Augenblick bemerkte er aus den Augenwinkeln im tiefen Schatten unten auf der Straße eine Bewegung, und sein Instinkt ließ in zur Seite springen, als ein Disruptor sich entlud und das Dach an der Stelle explodierte, an der er noch einen Sekundenbruchteil zuvor gekauert hatte. Doch auch so war die Wucht der Explosion stark genug, um ihn umzuwerfen. Mit rudernden Armen und Beinen rutschte er über das Dach nach unten, und dann war da plötzlich nur noch Luft. Er fiel mehr als zehn Meter tief und landete in einer hohen Schneewehe, wo er reglos liegenblieb. Luzius Abbott, der Wampyr, grinste und senkte den Disruptor. Er hatte Katze nie gemocht. Langsam setzte er sich die Straße hinunter in Bewegung, hinter Hazel und Owen her. Noch immer grinsend, noch immer mit der Waffe in der Hand.