Langsam machte Katze sich über die Dächer auf den Heimweg, und er hoffte inbrünstig, daß er keinen der drei je wiedersehen würde. Es war einfach zu gefährlich in ihrer Nähe.
Selbst in einer Stadt wie Nebelhafen.
Unten auf der Straße wirbelten Owen und Hazel herum, als sie unter den vielen blutigen Leichen im Schnee das Geräusch einer Bewegung vernahmen. Eine vereinzelte Gestalt versuchte davonzukriechen. Sie arbeitete sich allein mit den Armen voran und zog ihre seltsam schlaffen Beine in einer breiten Spur aus hellrotem Blut hinter sich her. Owen wollte sie verfolgen, aber Hazel legte ihre Hand auf seinen Arm und hielt ihn fest.
»Nicht nötig, ihn zu töten, Todtsteltzer. Er wird verbluten, bevor er weit kommt.«
Owen riß sich los. »Ich habe nicht vor, ihn zu töten. Ich will nachsehen, ob ich helfen kann.«
»Bist du übergeschnappt? Er ist ein Blutsüchtiger! Er hätte dich mit dem allergrößten Vergnügen getötet!«
»Der Kampf ist vorbei. Ich kann nicht einfach jemanden verbluten lassen, wenn Hilfe möglich ist. Wenn ich es täte, wäre ich kein Stück besser als sie. Vergeßt nicht, Hazel d’Arkich bin trotz allem noch immer ein Todtsteltzer, ganz gleich, was die Eiserne Hexe sagt, und wir sind ein ehrenhafter Clan. Und außerdem: nur ein paar Jahre früher, und Ihr hättet an seiner Stelle liegen können, Hazel.«
Owen stapfte rasch zu der davonkriechenden Gestalt und kniete neben ihr nieder. Er legte ihr freundlich die Hand auf die Schulter. Die Gestalt zuckte zusammen und gab einen schwachen, verzweifelten Schmerzenslaut von sich. Der Fremde war nicht besonders groß und in schmutzige Felle und Lumpen gewickelt. Seine Beine waren von den Oberschenkeln an abwärts voller Blut. Owen murmelte beruhigende Worte, bis der Fremde schließlich zu wimmern aufhörte – vielleicht auch nur, weil er bereits zu schwach dazu war.
Owen untersuchte die verwundeten Beine so sorgfältig, wie er es, ohne sie zu berühren, konnte, und schüttelte dann langsam den Kopf. Entweder er oder der Hadenmann hatten die Muskeln in beiden Beinen glatt durchtrennt. Der Fremde würde nie wieder gehen können. Verkrüppelnde Wunden auf einer Welt wie dieser hier. Owen zuckte unbehaglich die Schultern und zog die Kapuze des Fremden zurück. Als er das Gesicht erblickte, fuhr er entsetzt zurück und fühlte sich mit einem Mal elend. Sie war ein Mädchen, und sie konnte nicht älter sein als vierzehn. Das junge Ding schien halb verhungert, und ihre Wangenknochen zeichneten sich deutlich unter der gespannten Haut ab. Mit leeren Augen, jenseits von Hoffnung oder Verzweiflung, sah sie zu Owen auf. In ihren Augen war für nichts anderes Raum als Schmerz.
»Ein Plasmakind«, sagte Hazel leise hinter ihm. »Sie fangen schon sehr früh damit an, hier in Nebelhafen.«
»Sie ist noch ein Kind!« sagte Owen. »Mein Gott, was habe ich getan?«
»Sie hätte dich ohne zu zögern getötet«, sagte Hazel.
»Glaube mir, sie hätte keinen zweiten Gedanken mehr an dich verschwendet. Mach ein Ende, Owen. Wir müssen von hier verschwinden.«
Owen wandte sich wütend zu Hazel um. »Was meint Ihr mit ›nach ein Ende‹?«
»Willst du sie so hier liegenlassen? Wenn sie Glück hat, verblutet sie. Wenn nicht, und wenn der Wundbrand ihr nicht langsam den Garaus macht, dann ist sie für den Rest ihres Lebens ein Krüppel. Und was das bedeutet, kannst du dir ja wohl denken. Auf Nebelwelt ist kein Platz für Kranke und Schwache. Es ist gnädiger, wenn du ihrem Leben an Ort und Stelle ein Ende setzt. Oder soll ich es vielleicht für dich tun?«
»Nein!« preßte Owen zwischen den Zähnen hervor. »Nein!
Ich bin der Todtsteltzer! Ich wische meinen Dreck selbst auf!«
Owen zog den Dolch aus seinem Stiefel und stieß ihn fachmännisch ins Herz des Mädchens. Sie stöhnte nicht einmal, sondern hörte einfach nur auf zu atmen, und ihre Augen richteten sich in unendliche Fernen. Owen zog den Dolch aus ihrer Brust und setzte sich schweigend neben sie. Er wiegte sich leicht hin und her und versuchte, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Hazel kniete neben ihm nieder und wußte nicht genau, was sie machen sollte. Sie hätte ihm gerne eine Hand auf die Schulter gelegt und ihn getröstet, hätte ihn gerne wissen lassen, daß sie da war und ihn verstand, aber sie war nicht sicher, wie er es aufnehmen würde. Er war ein so unglaublich starker Mann, und stolz obendrein, aber er zeigte unerwartete Schwächen. Und wenn man Schwächen hatte, dann würde diese verdammte Welt sie finden.
Hazel hatte keine Ahnung gehabt, daß der Todtsteltzer ein weiches Herz besaß. Er war ihr immer als der vollkommene Krieger und Aristokrat erschienen. Jetzt erkannte sie eine neue Seite an ihm, doch sie war sich nicht sicher, ob sie sie mochte oder nicht. Wenn man ein Gesetzloser war, dann konnte eine einzige Schwäche schon reichen, und man war tot. Sie legte zaghaft die Hand auf seine Schulter, bereit, sie jederzeit wieder zurückzuziehen, aber er schien ihre Gegenwart nicht einmal wahrzunehmen. Sie konnte spüren, wie verkrampft er war, und sie wußte, daß genausoviel Wut wie Sorgen in ihm brodelten. Hazel blickte zurück zu dem Hadenmann mit seinen unnatürlichen, goldenen Augen, und sie mußte den Blick abwenden. Plötzlich sprang Owen auf die Beine. Sein Blick war noch immer auf den armseligen kleinen Körper gerichtet.
»Es ist einfach nicht richtig«, sagte er tonlos. »Niemand sollte auf diese Weise leben müssen. Oder auf diese Weise sterben.«
»Aber es geschieht überall«, erwiderte Hazel. »Nicht nur auf Nebelwelt, sondern überall im gesamten Imperium. Du bist reich, besitzt einen Titel – was kannst du schon über das Leben der unteren Klassen wissen?«
»Ich hätte es wissen müssen. Ich bin Historiker. Ich habe die Aufzeichnungen studiert. Ich wußte, daß früher solche Dinge geschehen sind. Aber ich hätte nicht im Traum gedacht, daß…«
»Geschichte ist doch nur das, was das Imperium als Geschichte darstellt«, mischte sich Mond mit seiner rasselnden, summenden Stimme ein. »Das Imperium entscheidet, was aufgezeichnet wird. Aber selbst die leuchtendste Blume hat Dreck an ihren Wurzeln.«
»Nein!« sagte Owen. »Es darf nicht so bleiben, wie es jetzt ist. Dafür stehe ich mit meinem Namen. Ich bin der Todtsteltzer, und ich werde nicht erlauben, daß es so weitergeht.«
»Und was willst du dagegen unternehmen?« fragte Hazel.
»Das Imperium zerstören?«
Owen blickte sie lange schweigend an. Schließlich antwortete er: »Ich weiß es nicht. Vielleicht. Wenn es nötig ist, um das hier zu ändern.«
Er wandte Hazel und dem toten Kind den Rücken zu und ging zu dem Hadenmann hinüber. »Nach dem, was ich gehört habe, gibt es nur noch wenig mehr als ein Dutzend von Euch im gesamten Imperium. Was kann ich Eurer Meinung nach für Euch tun? Die Imperatorin hat alle Eurer Art zum Tode verurteilt, weil Ihr eine Gefahr für das Imperium und die gesamte Menschheit darstellt. Ich kann nicht sagen, daß ich ihr deswegen einen Vorwurf mache – wenn man bedenkt, welche Folgen Euer Aufstand hatte. Ihr habt Millionen getötet. Und wenn Ihr Erfolg gehabt hättet…«
»Hätten wir noch Millionen mehr getötet«, vollendete Mond Owens Satz. Es war schwierig, in dieser nichtmenschlichen, summenden Stimme Emotionen zu erkennen, aber Owen glaubte, genausoviel Bedauern wie Trotz gehört zu haben.
»Wir kämpften um unsere Freiheit. Um unser Überleben. Wir verloren die Schlacht, aber der Krieg ist noch nicht zu Ende.
Ich bin nicht der letzte von meiner Art. Auf der verlorenen Welt Haden, die allein durch das dunkle All treibt, liegt eine ganze Armee meines Volkes in der Gruft von Haden und wartet auf das Signal, das sie erwachen läßt. Wir haben die bittere Erfahrung gemacht, daß wir den Kampf nicht alleine gewinnen können. Wir benötigen Verbündete. Verbündete wie Euch, Owen Todtsteltzer. Und Eure einzige Chance zu überleben besteht darin, daß Ihr eine Armee aufstellt und der Imperatorin Löwenstein den Krieg erklärt. Ihr seid ein Todtsteltzer; viele würden Euch folgen, wohin sie niemand anderem folgen würden. Euer Name stand immer für Wahrheit und Gerechtigkeit und den Triumph in der Schlacht. Ich spreche für das Volk der Hadenmänner. Wir werden neben Euch kämpfen, wenn wir als Lohn unsere Freiheit erhalten.«