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Ende des Jahres 1314

Immer, wenn er die Augen schloss, sah Henri de Roslin einen gespaltenen, blutenden Leib vor sich, die Saufeder in der klaffenden Wunde. Immer, wenn er sich wusch, strich er behutsam über die Narben, die die Tortur der Inquisition auf seiner Haut hinterlassen hatte. Immer, wenn er träumte, sah er den Papst, mit Schaum vor dem Mund und verdrehten Augen, der ihn wie ein fahles Gespenst aus dem Jenseits fragte: Warum, Henri, warum?

Wenn er lauschte, hörte er das Gemurmel der Menschen auf den Marktplätzen, die sich die sensationellen Nachrichten zuflüsterten. Er hörte die polternden Schritte der königlichen Soldaten, die die Kneipen und Gasthäuser durchkämmten, die Tritte der Pferdehufe, die über Moore und Einöden hallten, wenn die Soldaten unterwegs waren, um die alten Komptureien der einst so stolzen Tempelritter zu durchsuchen. Er roch den Schweiß der Pferde und den Gestank der Soldaten, die nur ein Ziel hatten: ihn, Henri, den Fluch der Templer, zu verhaften und endgültig zu vernichten.

Er hatte wenig, auf das er sich in einem der Anarchie verfallenen Land noch verlassen konnte: seinen Instinkt und seine Erfahrung im Kampf, seine rasche Auffassungsgabe und seine Geistesgegenwart, seine Kenntnisse der Geographie und der Astronomie. Seinen unerschütterlichen Glauben an Gott, dessen Werkzeug der Rache er gewesen war. Und an seiner Seite Uthman ibn Umar, den Gelehrten und Freund, im Kampfe schnell und sicher, der ihm bei seinen schrecklichen und notwendigen Taten geholfen hatte: der Hinrichtung des Papstes Clemens und des Königs Philipp. Die beiden hatten sich verschworen, den mächtigen Orden der Templer zu einem Brutherd der Ketzerei erklärt und in einem gewaltigen Blutbad die stolzen Ritter vernichtet.

Jetzt, da die Taten vollbracht, der Fluch vollzogen, die Schande gerächt war, wusste er, dass die Häscher ausgeströmt waren, um ihn zu finden. Überall. Um ihn dann zu töten.

Er musste weg von Frankreich, weg von den Spähern, Spitzeln und Spionen.

Ein leichter Wind strich über den Hafen Le Graudu Roi und kam sogleich wieder zum Erliegen. Seine Kraft reichte nicht einmal aus, um die Wasseroberfläche des Kanals zu kräuseln, zu dessen Bau Ludwig der Heilige den Auftrag gegeben hatte.

Henri und Uthman hatten sich zu diesem Hafen in der Camargue entschlossen, weil dort nur einige Fischer lebten, die sich auf dem schmalen Landstreifen des kleinen Ortes Aigues-Mortes angesiedelt hatten. Erst vor etwa hundert Jahren war die enge Nehrung vom Meer angelandet worden, die nun einigen armseligen Fischerhütten Raum bot.

Darum hegten sie die Hoffnung, dass die Kunde vom Mord an König Philipp nicht bis hierher gedrungen war. Vielleicht aber hatte man auch in diesem abgelegenen Teil Frankreichs von der schrecklichen Begebenheit gehört, dass Papst Clemens einem Giftanschlag zum Opfer gefallen war. Wie schnell könnten in so einem kleinen Fischerdorf Gerüchte entstehen und Fremde verdächtigt werden! Von den frommen Kirchgängern des Ortes könnte man mit Sicherheit kein Verständnis für einen heimtückischen Giftanschlag auf den heiligen Vater erwarten.

Weil sie einer hochnotpeinlichen Befragung entkommen wollten, mussten die Flüchtlinge ohne Verzögerung Frankreich verlassen. Sie wussten es beide. Denn man würde sie als Mörder und Giftmischer im gesamten Gebiet der Krone verfolgen, wohin sie sich auch wendeten. Eine unsichere Zukunft und eine weite Reise lagen vor ihnen.

»Wir können es uns nicht erlauben, auf ein Schiff zu warten, das uns Bequemlichkeiten verschafft«, hatte Henri gesagt. »Im Hafen liegt eine Kogge, die mir einen seetüchtigen Eindruck macht.«

Uthman betrachtete fachkundig die hohen Aufbauten im Vor- und Hinterschiff, die ziemlich geräumig aussahen. »Jedenfalls«, meinte Uthman, »bietet sie doch mehr Platz als ein Einbaum, der nur durch Planken erhöht ist!«

Henri lachte. »Zur Not würde ich auch mit dem einfachsten Wasserfahrzeug flüchten.« Die Kogge mit den viereckigen Segeln aus Baumwolle oder Hanf schien genügend Segelfläche zu haben, sodass sie sich schnell genug von der französischen Küste entfernen konnten.

»Auch wenn es anders wäre, müssten wir mit dieser Kogge vorlieb nehmen«, stellt Henri abschließend fest.

Schon wenige Stunden später standen sie auf dem knarrenden Deck des Schiffes. Es hatte Kurs auf Menorca genommen, von dort hofften die Gefährten, nach Spanien übersetzen zu können.

»Jetzt habe ich nur noch eine Sorge«, sprach Henri laut aus, was er gerade dachte. »Die Segel hängen noch ziemlich schlapp.« Er blickte sorgenvoll auf den Hafen von Le Grau du Roi. »Den Piraten, die sich in den Gewässern der Balearen herumtreiben sollen, können wir so nicht entkommen.«

Uthman machte einen seiner üblichen Scherze. »Umso besser! Denn die Piratenschiffe sind nicht auf ihre Segel angewiesen, weil sie durch ihre Ruderer in drei Reihen auf jeder Seite angetrieben werden. Du glaubst nicht, welche Geschwindigkeit ein Piratenschiff erreichen kann, wenn der Aufseher mit der Peitsche den Antrieb befördert.«

»Ich bin froh, dass du zu deiner Fröhlichkeit zurückgefunden hast und wieder scherzen kannst«, sagte Henri. »Ich fürchtete schon, dass dich der Mord an König Philipp und der Giftanschlag auf den Papst allzu sehr belastet hätten.«

»Das hatten sie auch, und bis jetzt fühle ich mich noch nicht befreit. Ich habe ein Gebet an Allah gerichtet, dass er mir diese Taten verzeihen möge.«

»Auch ich habe eine Bitte um Vergebung an Gott gerichtet und hoffe, dass ich erhört werde«, erwiderte Henri. »Aber ich habe meine Gedanken auch der Zukunft zugewandt. In der Klosterkirche von Aiguës habe ich für die Gnade einer guten Überfahrt gebetet, und ich bitte dich, dass auch du deinen Allah um seine Hilfe anflehst.«

Uthman verlor sein Lächeln. »Ich habe zu Allah gebetet, dass er deinen Knappen Sean und seine Mutter, die Lady of Ardchatten, beschützen möge. Wenn die beiden deinem Rat gefolgt sind, befinden sie sich bei dem Abt der Klosterkirche Cadouin in guter Obhut.«

Henri wirkte noch immer besorgt. »Ich habe sie eindringlich davor gewarnt, dass die königliche Polizei in allen Bastiden nach uns suchen wird.«

»Richte deine Sorgen jetzt auf die kommenden Wochen!«, mahnte Uthman. »Was wir tun konnten, haben wir getan.« Er wies zu der französischen Küste, die trotz des allzu linden Windhauches schon hinter dem Horizont verschwunden war.

Als ob jedoch die himmlischen Mächte die Gebete der Flüchtlinge erhört hätten, fuhr unerwartet eine kräftige Böe über das Wasser. Die Segel blähten sich und trieben das Schiff über die stärker gewordenen Wellen vorwärts.

Jetzt war Henri eigentlich seine Sorgen los. Doch er suchte aufmerksam den Horizont ab. Weit hinter ihnen, fast nur ein kleiner Punkt, dümpelte ein Frachtschiff.

»Wir sollten es im Auge behalten«, flüsterte Henri Uthman zu, »vielleicht ist uns doch jemand gefolgt.« Obwohl die französischen Soldaten keine berühmten Seefahrer waren, könnten sie dennoch das Schiff entern und Henri und Uthman in Ketten legen lassen. Es war keine verlockende Aussicht.

Uthman nickte. Sollten die Truppen des Königs sie tatsächlich im Hafen beobachtet haben und nun verfolgen, könnte die Reise zur Katastrophe werden.

»Hoffentlich haben wir genügend Schiffszwieback, Bohnen und gesalzenen Fisch an Bord«, seufzte Uthman, scheinbar unbesorgt, weil er sich nichts anmerken lassen wollte. »Seeluft macht hungrig.«

»Erzähle mir etwas über Menorca!«, bat Henri, um ihn von seinem vermeintlichen Hunger abzulenken. »Ich möchte nämlich wissen, was uns dort erwartet. Vielleicht hast du in der Bibliothek etwas über die Zeit gelesen, als Menorca zum Kalifat von Cordoba gehörte.«

Uthman ließ sich nicht lange bitten, wie immer, wenn er von Cordoba erzählen durfte. »Menorca wurde von vielen Völkern beeinflusst: von den Griechen, Karthagern, Römern, dann uns Arabern. Heute leben dort Franzosen und Katalanen, dazu vereinzelte Anhänger des Propheten. Willst du noch mehr erfahren?«