Der Pilger wandte sich schon zum Gehen. Ich fürchtete, dass er eine mameluckische Ordnungsmacht rufen würde. Aber plötzlich wandte er sich zurück und flüsterte mir zu: ›Man hat den Franziskanern seit Jahren versprochen, dass sie auf dem Berg Zion ein Kloster errichten dürften. Einige Mönche, allerdings nicht in ihrer Ordenstracht, haben sich dort niedergelassen, um für ihre Sache zu kämpfen. Dort könntest du Auskunft erhalten.‹
Ich folgte seinem Rat, obwohl ich den Verdacht hegte, dass unsere Unterhaltung beobachtet worden war. Einer der Mamelucken, die am Felsendom für Ordnung sorgten, löste sich aus dem Schatten der Arkaden und näherte sich mir. Ob das einer der Beobachter war, die man mir im Verlies von Akkon angedroht hatte? Ehe er ein Pferd satteln konnte, sprang ich auf den Rücken meiner Stute und galoppierte davon. Ich hoffte, dass man den Pilger nicht festnehmen und unter Folter dazu bringen würde, den Inhalt unseres Gespräches zu verraten.«
»Entsprachen denn seine Auskünfte der Wahrheit?«, fragte Uthman. »Oder bist du wieder in eine Falle gegangen? Warum hast du nicht schleunigst Jerusalem verlassen?«
»Nein, als Falle konnte man es eigentlich nicht bezeichnen, obwohl der Besuch bei den Franziskanern zu unerwarteten Verwicklungen führte. Die Beantwortung deiner zweiten Frage ist schwieriger. Jerusalem, mit seiner wechselvollen Geschichte, übt eine Faszination aus, die ich dir mit Worten nicht beschreiben kann. Freiwillig wird wohl niemand die Heilige Stadt verlassen.«
Zu Henris Erstaunen verzichtete der immer hungrige Uthman darauf, seine Essensration in der Kochkombüse abzuholen. Das Mittelmeer breitete sich fast wie ein See vor ihnen aus. Nichts erinnerte mehr an den vergangenen fürchterlichen Sturm. Die Kogge bewegte sich ruhig durch die flachen Wellen. Ab und zu machten sich einige Matrosen am Reff zu schaffen, um die Segelfläche zu vergrößern oder zu verkleinern. Sie verstanden ihr Handwerk, denn der wechselnde Wind fand immer die richtige Angriffsfläche.
Uthman hielt ein Eigenlob für berechtigt. »Unser Segel tut gute Dienste. Ohne uns säßen wir immer noch in der Bucht fest.«
Die Mittagssonne brachte das Meer zum Glitzern, sodass sie ihre Augen schließen mussten. Am liebsten hätten sie es wie die Matrosen gemacht, die mit nacktem Oberkörper in der Takelage arbeiteten. Aber Henri fürchtete, dass man die Spuren der vergangenen Folter an seinem Körper entdecken könnte. Uthman, der beobachtet hatte, dass der Kapitän ein Hemd trug, hielt es für angebracht, ebenfalls würdig aufzutreten. Auch Muhammad, der Gesandte Allahs, hatte sich niemals nackt gezeigt. Nicht einmal in der glutheißen Wüste.
Sie suchten sich einen Schattenplatz, wo die Hitze durch einen leichten Windhauch gemildert wurde. »Erzähle weiter!«, bat Uthman. »Wie ist es dir bei den Franziskanern ergangen?«
»Nach meinen schlechten Erfahrungen in der Vergangenheit wollte ich kein Risiko eingehen. So benutzte ich nicht den bequemen Reitweg, der sich in Serpentinen nach oben schlängelte, sondern einen mit Gestrüpp bewachsenen Pfad, von dem aus ich jede Biegung einsehen konnte. Meine Vorsicht erwies sich als unbegründet. Niemand folgte mir oder kam mir von oben entgegen, um mir den Weg zu versperren. Nicht einmal die Franziskaner hatten mich vom Gipfel aus bemerkt.«
»Das hört sich gut an«, meinte Uthman.
»Der Empfang war allerdings sehr merkwürdig«, fuhr Henri fort. »Die Mönche hatten sich aus Felsgestein eine notdürftige Unterkunft gebaut. Von dem Beginn eines Klosterbaus war nichts zu bemerken. Sie saßen um eine Feuerstelle, auf der sie sich eine grünlich aussehende Suppe gekocht hatten. Obwohl ich mich als ehemaliger Kreuzritter zu erkennen gegeben und die bei den Templern üblichen Grußworte gesprochen hatte, luden sie mich nicht ein, an ihrem kargen Mahl teilzunehmen. Stattdessen unterzogen sie mich einer strengen Befragung.«
»Am besten wäre es gewesen«, warf Uthman ein, »ohne Verzögerung diese gastliche Gesellschaft zu verlassen.«
Henri lächelte. »Hinterher ist man immer klüger als vorher. Sie stellten mir Fragen, die nur jemand beantworten konnte, der als Templer an der Eroberung Jerusalems teilgenommen hatte oder dem man zumindest davon erzählt hatte:
Welche Kreuzfahrer 1099 Jerusalem erobert hätten?
Ob ich von dem Kreuzfahrer Tankred gehört hätte, der aus dem Felsendom alle Schätze geraubt habe?
Wer das Blutbad am zweiten Tag nach der Eroberung verschuldet habe?
Ob ich davon gehört hätte, dass damals das Blut, das von den Felsen herabströmte, bis zu den Zügeln der Pferde gereicht habe?
Ob man mir berichtet habe, dass nach der Eroberung der Heiligen Stadt kein Ungläubiger mehr in Jerusalem gelebt habe, der nicht Sklave der Christen gewesen sei?
Ob ich der Meinung sei, dass sich so ein Verhalten christlich nennen ließe?«
»Diese Befragung ist mir rätselhaft«, warf Uthman kopfschüttelnd ein. »Mir kommt es so vor, als ob diese Mönche deine Feinde und nicht etwa christliche Brüder gewesen seien.«
»Auch ich konnte ihre fast feindselige Haltung zunächst nicht verstehen. Das hatte mit einem verständlichen Misstrauen nichts mehr zu tun. Erst später wurde mir klar, dass sich diese Männer, die vielleicht gar keine Franziskaner, sondern Abenteurer waren, bei den mameluckischen Herrschern einschmeicheln wollten, weil sie hofften, die Reglementierung der Pilger übernehmen zu können. Vielleicht erhofften sie sich sogar einen Anteil an den Gebühren.«
»Dies war doch der letzte Zeitpunkt, um sich zu verabschieden«, meinte Uthman.
»Vielleicht war es das. Aber als ich ihre Fragen mehr oder weniger zufriedenstellend beantwortet hatte, änderten sie ihr Verhalten. Sie boten mir von ihrer Suppe an, gegen deren Geschmack Brunellas Bohnengericht geradezu ein Festessen war. Aber wahrscheinlich war dieses Grünzeug das Einzige, was auf dem Tempelberg wuchs. Jedenfalls bedankte ich mich. Am Ende der Mahlzeit sprach einer der angeblichen Mönche ein Gebet, von dem ich nicht ein einziges Wort verstand.«
»Wahrscheinlich türkisch oder ägyptisch«, mutmaßte Uthman.
»Ich habe es nicht klären können. Aber ich wurde unruhig, als einer der Männer meine Stute fortführte, angeblich auf ein Weideland, das aber höchstens die Größe einer Satteldecke aufweisen konnte. Denn ringsum sah ich nur Felsgestein.
›Wir erwarten Besuch‹, teilte mir der Älteste in dieser Gruppe mit. ›Ihr werdet freudig überrascht sein. Denn es handelt sich um einen Eurer besten Freunde.‹ Wer mochte das sein? Vielleicht einer der Tempelritter, der keinen Platz mehr auf einem Boot gefunden hatte, das als letztes nach Zypern ausgelaufen war. Ich hatte davon gehört, dass es im Koran eine Sure gab, in der es hieß: Es sei kein Zwang im Glauben. Darum hielt ich es für möglich, dass auch ein ehemaliger Tempelritter als Christ in einer arabischen Stadt leben konnte. Einigermaßen beruhigt sah ich dem Besuch meines Freundes entgegen. Ich verstieg mich sogar zu dem Gedanken, dass ich für eine Weile bei diesem Freund wohnen könne.«
»Vor allem wärst du dort sicher vor deinen Verfolgern gewesen«, hoffte Uthman.
»Das dachte ich auch bis zu dem Augenblick, in dem der angekündigte Besuch eintraf. Schon von weitem hörten wir das Klappern der Hufe auf dem Serpentinenweg. Offenbar handelte es sich um einen einzelnen Reiter. Einer der Männer hatte auf der äußersten Klippe des Berges, nahe dem felsigen Abgrund, einen Beobachtungsposten bezogen. ›Er kommt!‹, rief er uns zu. Ich hatte mich erhoben, um meinem Freund entgegenzugehen. Schon konnte ich das Schnauben seines Rosses hören, als der Reiter noch hinter dem letzten Ginstergebüsch verborgen war. Aber endlich wurde er sichtbar. Das war allerdings eine Überraschung, aber keine gute.
Es war Louis, der Verräter, der mich den Mamelucken ausgeliefert hatte. ›Allah akbar!‹, rief er den angeblichen Franziskanern zu. Mit Schwung hatte er sich aus dem Sattel gleiten lassen und trat auf mich zu. ›Für dich habe ich einen besonderen Willkommensgruß, nämlich diesen.‹ Er zog mir seine Reitpeitsche durch das Gesicht, sodass meine Wangen aufplatzten und das Blut herabströmte.«