Aber plötzlich schreckte ihn eine Stimme auf. »Ich wusste gar nicht, dass Ihr ein Nachtschwärmer seid! Was fesselt Euch denn so sehr am Firmament, dass Ihr unbeweglich die Sternenwelt beobachtet?«
Ernesto di Vidalcosta legte ihm freundschaftlich seinen Arm um die Schultern, drehte ihn seitwärts und wies auf ein Sternbild. »Diese Gruppe hier nennen wir den Großen Wagen. Wenn man genau hinschaut, lässt sich die Deichsel sehr gut erkennen.«
Henri äußerte seine Bewunderung, obwohl dieses Sternbild für ihn nichts Neues war. Aber es war ihm aufgefallen, dass der Kapitän ihn auffällig aus der Sicht des Polarsterns wegdrehen wollte. Auch die freundschaftliche Fürsorglichkeit des Kapitäns stimmte ihn bedenklich. »Die Nachtluft ist feucht, und man unterschätzt die Kühle der ersten Frühlingsnächte auf See. Ich möchte nicht, dass Ihr Euch eine Influenza zuzieht. Es ist vernünftiger, wenn Ihr die Unterkunft aufsucht!« Er gab ihm einen leichten Stoß in die Richtung der Aufbauten.
Henri gab sich fügsam und dankte für die guten Ratschläge. Ganz offensichtlich wollte der Kapitän in dieser Nacht keine Zeugen irgendwelcher Machenschaften. Aber welcher? Noch konnte Henri diese nächtliche Begegnung nicht einordnen.
»Hast du unsere Richtung herausfinden können?«, fragte Uthman hoffnungsvoll, als sein Gefährte zu ihm zurückkehrte.
»Leider nein«, bedauerte Henri und berichtete von seiner Begegnung mit dem Kapitän. »Ganz offensichtlich wollte er mich loswerden.«
»Wir dürfen ihn in dieser Nacht nicht aus den Augen lassen«, sagte Uthman. »Es gibt im Vordersteven ein kleines Beiboot. Ich kann mir vorstellen, dass es dazu dient, in unzugänglichen Häfen Waren oder Personen an Land zu bringen. Ich werde mich darin verbergen und mit der darin liegenden Persenning zudecken. Einen besseren Beobachtungsposten kann ich mir nicht vorstellen.«
»Sei vorsichtig!«, wollte Henri seinem Freund noch raten.
Aber Uthman hatte sich im Schatten der Aufbauten schon davongeschlichen. Der Kapitän lehnte an der hölzernen Brüstung und beobachtete den Himmel. Mit dem Polarstern hatte seine Aufmerksamkeit jedenfalls nichts zu tun. Warum auch? Er konnte seine Navigation jederzeit durchführen, ohne Zeugen fürchten zu müssen. Es war sogar seine Pflicht, die eingeschlagene Richtung der Kogge zu überprüfen.
Eine Weile geschah nichts. Ernesto di Vidalcosta verharrte unbeweglich wie eine hölzerne Galionsfigur. Uthman blieb geduldig unter der Persenning versteckt und fürchtete nur, er könne einschlafen. Nach etwa einer Stunde wechselte der Kapitän seine Stellung und begab sich zum Bug des Schiffes. Uthman vernahm ein leises Flügelschlagen. Während der bisherigen Seefahrt hatte er noch keine Möwen zu Gesicht bekommen. Sie hielten sich wohl eher in Ufernähe auf.
Vorsichtig hob er die Persenning ein winziges Stück hoch. Der Kapitän bemerkte ihn nicht. Er war mit dem Vogel beschäftigt, der soeben über das Meer herangeflogen war. Neben ihm auf der hölzernen Brüstung saß eine grauweiße Taube. Er lockte sie mit etwas, das er auf der ausgestreckten Hand hielt, zu sich heran. Die Taube gurrte leise und ließ sich willig greifen. Ernesto di Vidalcosta barg sie unter seinem Hemd und ging in seine Kajüte.
Uthman hätte beinahe einen lauten Freudenruf ausgestoßen, den er gerade noch verschlucken konnte. Jetzt bin ich ihm auf die Schliche gekommen, dachte er triumphierend. Er empfängt seine Nachrichten durch Brieftauben.
Seit seiner frühesten Jugend wusste er, dass die Abbasiden-Kalifen einen Brieftaubendienst eingerichtet hatten, um wichtige Nachrichten zu übermitteln. Auch Schiffe hatten schon damals Brieftauben mit sich geführt, um von verschiedenen Orten aus Meldung geben zu können. Vor allem hatten sich berühmte Herrscher nach einer Schlacht die Nachricht über den Ausgang des Gefechts durch eine junge Taube in ihren Palast bringen lassen. Sehr begüterte Leute hatten sogar, während einer Abwesenheit von ihrer Heimat, auf diese Weise mit ihren Frauen und Geliebten korrespondiert. Das hatte Uthman am besten gefallen. Darum hatte er auch einen Vers des gelehrten Dichters Ibn Hazim behalten: »Dereinst hat Noah sie erwählt, und seine Hoffnung trog ihn nicht, da sie zurück zu ihm mit froher Kunde flog.«
Ob diese Kunde eine frohe für uns ist, wage ich stark zu bezweifeln, dachte Uthman. Ich muss sofort Henri meine Entdeckung mitteilen. Henri ist klug und mit einem scharfen Verstand begabt. Er wird sich einen Reim auf diese nächtliche Botschaft machen können.
»Ich gebe zu, dass ich an eine solche Nachrichtenübermittlung gedacht habe«, bekannte Henri. »Wer sendet ihm diese Taube? An wen schickt er sie zurück? Falls es uns nicht gelingt, in den Besitz dieser Botschaft zu gelangen, sind wir Ernesto di Vidalcosta völlig ausgeliefert.«
»Du glaubst auch nicht, dass es sich bei dieser Nachrichtenübermittlung um eine Spielerei handelt?«, fragte Uthman.
»Nein, wohl kaum! Warum sollte er dann ein Geheimnis daraus machen? Außerdem: Warum sollte er dann seinen Kurs verschweigen, nur um an einen Ort zu kommen, den die Taube finden kann? Denke daran, dass er trotz ruhiger See hat Anker werfen lassen. Denn natürlich finden Tauben immer nur zu ihrem Schlag zurück. Ein Schiff auf dem Meer werden sie kaum ausmachen können, es sei denn, es befindet sich an einem festgelegten und anerzogenen Ort.«
Uthman wusste, dass die Papiere mit den wichtigen Nachrichten unter den Flügeln der Taube angeheftet wurden. »Wenn wir es nicht schaffen sollten, eine Brieftaube abzufangen oder in der Kajüte des Kapitäns einen Zettel zu finden, der noch den Geruch des Vogels an sich trägt, sollten wir in Mallorca von Bord gehen.«
»Der Meinung bin ich auch«, bestätigte Henri.
Am folgenden Morgen beschäftigten sie sich damit, auf eine passende Gelegenheit zu warten, um heimlich in die Kajüte des Kapitäns schleichen zu können. Aber Ernesto di Vidalcosta ließ sich nicht sehen.
Uthman wurde ungeduldig. »Ich werde ihn jetzt unter einem Vorwand aufsuchen. Vielleicht entdecke ich wenigstens die Taube.«
Henri war jedoch anderer Meinung. »Falls du wirklich die Taube siehst, darfst du dir nichts anmerken lassen. Denn wenn der Kapitän auch nur die leiseste Ahnung hat, dass wir ihn beobachtet haben, werden wir nie das Geheimnis lüften können, im Gegenteil – wir könnten in Gefahr geraten.«
»Du bist wieder einmal klüger als ich«, gab Uthman zu. »Den Besuch in der Kapitänskajüte möchte ich dir überlassen.«
Henri begab sich zu dem Kapitän. Er wollte ihn etwas Bedeutungsloses fragen, ob er vielleicht zur Erinnerung ein Stück von dem baumwollenen Segeltuch haben könne. Aber als er nach einem kurzen Anruf eintrat, zuckte der Kapitän erschrocken zusammen und schob ein Stück Papier unter eine Seekarte. Die Taube saß in einer dunklen Ecke und gurrte leise vor sich hin.
Henri spielte den völlig Ahnungslosen und plauderte unbefangen darüber, welche Freude es ihm gemacht hätte, bei der Anfertigung des Segels mitzuhelfen. Er spürte deutlich, wie gern der Kapitän ihn möglichst schnell losgeworden wäre. »Nehmt von dem Ballen, so viel Ihr wollt, solange noch genügend Baumwolle für ein neues Segel übrig bleibt.« Ernesto di Vidalcosta wartete darauf, dass sich Henri wieder entfernte.
Aber Henri setzte zu weitschweifigen Dankesreden an, bis der Kapitän ihn fast unhöflich verabschiedete. »Ich habe wichtige Navigationsaufgaben zu erledigen. Das werdet Ihr sicher verstehen. Denn von meiner Schiffsführung hängt unser aller Leben ab. Guten Morgen, mein Herr!«
Das war eine deutliche Verabschiedung.
»Ich hatte keinen Erfolg«, berichtete Henri über seinen Besuch in der Kapitänskajüte. »Das müssen wir anders anpacken. Einer von uns beiden muss versuchen, den Kapitän abzulenken, und der andere durchsucht seine Papiere. Ich hatte den Eindruck, dass er soeben ein Antwortschreiben entworfen hat. Eine Taube war jedenfalls noch da.«