»Sollten wir nicht versuchen, heute Abend die Taube abzufangen? Oder vielleicht sogar den zwielichtigen Kapitän über Bord werfen?«
»Das eine ist genauso unmöglich wie das andere. Du weißt besser als ich, dass Brieftauben immer in ihren heimatlichen Schlag zurückkehren. Und was glaubst du, was das für einen Aufruhr gibt, wenn wir Ernesto in das Meer befördern? Zumindest der Wachhabende wird Zeuge sein und uns anschwärzen. Außerdem: Wer soll das Schiff denn danach führen? Der Kapitän hat sich die Navigation immer selbst vorbehalten.«
»Schade!«, seufzte Uthman. »Ich hatte mir das so schön vorgestellt. Vielleicht können wir ihn wenigstens in Mallorca in irgendeinem Hafenkanal versenken.«
»Ach Uthman!«, ermahnte Henri seinen Freund. »Nicht immer lassen sich Schwierigkeiten durch Gewalttaten regeln. Manchmal genügt schon eine List oder doch in der höchsten Not ein Gebet.«
»Wenn du mir schon nicht gönnst, den Kapitän den Fischen zum Fraß vorzuwerfen, dann erzähle mir wenigstens weiter, wie es dir in Jerusalem erging!«
6
»Ich verbrachte eine schlechte Nacht auf dem nassen Stroh, das man beim Ausmisten der Ställe, als unzumutbar für die Pferde, unter ihren Leibern entfernt hatte. Zu hungern hatte man mir schon in frühester Jugend im Templerorden beigebracht. Aber ich litt entsetzlichen Durst.
Am Morgen riss einer der Mamelucken ungestüm die Eisentür auf und trieb mich in den Hof. Ich fürchtete, dass man mich nun endgültig massakrieren würde. Aber zu meinem Erstaunen stand meine Stute gesattelt vor der Stalltür. Noch durfte ich allerdings nicht aufsteigen. Ein hochgewachsener Mann in einer prachtvollen Burda stand abseits, betrachtete mich von oben bis unten und gab einem seiner Untergebenen einen Wink. ›In solch einem erbärmlichen Zustand können wir diesen Burschen nicht zu Abu Hassan al-Masudi führen. Reinigt diesen Dreckskerl im Brunnen und bekleidet ihn mit einem sauberen Baumwollhemd und einer Sirwal, die nicht zerrissen ist!‹
Einige Mamelucken packten mich und warfen mich in einen Brunnen. Mehrmals tauchten sie mich unter. Es schien ihnen große Freude zu bereiten. Denn sie konnten gar kein Ende finden, bis ihr Vorgesetzter mit scharfer Stimme Einhalt gebot. Schlotternd vor Kälte stand ich da und wartete darauf, dass sie irgendwo Kleidungsstücke für mich auftreiben würden. Sie ließen sich Zeit.
Endlich durfte ich meine Stute besteigen. Ich war so starr gefroren, dass es mir beinahe nicht gelungen wäre, mich in den Sattel zu schwingen. Nur die Angst vor einer neuen Demütigung half mir, mich mit Hilfe der Steigbügel nach oben zu ziehen.«
»Sprich zu den Gefangenen in euren Händen: ›Wenn Allah Gutes in euren Herzen erkennt, dann wird Er euch Besseres geben als das, was euch genommen wurde, und wird euch vergeben. Denn Allah ist allvergebend, barmherzig.‹«, rezitierte Uthman still aus dem Koran. Wie konnten sich denn wahre Gläubige so frevlerisch verhalten? Aber er wollte hören, wie es Henri weiter ergangen war. »Wenn man dich neu eingekleidet hat, wollte man dich mit Sicherheit nicht in ein Verlies werfen, foltern oder gar umbringen«, meinte er.
»Das hoffte ich auch«, erwiderte Henri. »Und meine Hoffnung erfüllte sich. Wir hielten vor einem prächtigen Palast, der aus der Zeit der christlichen Könige stammen musste. So verstand ich, warum man mich nicht in meiner zerrissenen Kleidung, nach Pferdemist stinkend, hier vorführen wollte. Der Mamelucke, der mich begleitete, zerrte mich ziemlich grob zu einem Nebeneingang hinter den Stallungen. Ein breiter Gang tat sich auf, der rechts und links von Kriegern gesäumt war, die ihre Schwerter wie eine Sperre gekreuzt hatten. Mein Begleiter rief ihnen etwas zu, und sie hoben ihre Waffen, unter denen wir gebückt weitergehen durften. In allen Räumen, die wir durchschritten, saßen in seidenen Kleidern Männer, die uns mit ernsten Gesichtern musterten.«
»Seidene Gewänder?«, rief Uthman verächtlich. »Bei uns weiß doch jeder anständige Muslim, dass Männer nur dann seidene Gewänder tragen dürfen, wenn sie die Krätze haben.«
»Das mag vielleicht eine sarazenische Sitte sein«, lehnte Henri diese Missachtung der Seide ab. »Aber auch der hohe Staatsbeamte, der mich in einem der prunkvollen Säle empfing, trug einen seidenen Umhang.
Er machte mir nicht den Eindruck, als ob er von der Krätze befallen sei!
Mein mameluckischer Begleiter gab mir von hinten einen Tritt in die Kniekehle, sodass ich, ob ich es nun wollte oder nicht, in die Knie sank. Vor mir saß an einem Tisch aus reinem Gold mein Lebensretter vom Berg Zion. Ich hätte die Augen senken müssen, aber ich konnte meinen Blick nicht von diesem Tisch lösen. Denn das musste der sagenhafte Tisch des Königs Salomo sein, von dem ich wahre Wunderdinge gehört hatte. Ich wusste jedenfalls, dass König Salomo viel Kraft und erhebliche Mittel auf den Bau prächtiger Gebäude und deren Innenräume eingesetzt hatte.
Der hohe Würdenträger gab dem Mamelucken einen Wink, dass er sich zurückziehen solle. Gerne ging der nicht. Das sah ich genau.«
»Wollte er vielleicht keine Zeugen eures Gesprächs?«, fragte Uthman. »Wenn er dich aus den Fängen dieser so genannten Franziskaner errettet hatte, musste es sich doch um ein sehr wichtiges Anliegen handeln.«
»Das war es in der Tat. Abu Hassan al-Masudi schwieg lange, als ob er sich nicht entschließen könne, mir etwas anzuvertrauen. Als er sich endlich überwunden hatte, mich in seine Pläne einzuweihen, öffnete er vorher noch die Tür und vergewisserte sich, dass sich draußen kein unerwünschter Zuhörer befand. Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. ›Ich habe über dich Erkundigungen eingezogen. Stimmt es, dass du in Akkon als Knappe auf der Seite der Tempelritter gekämpft hast?‹
Ich bejahte das durch ein stummes Nicken.
›Stimmt es, dass du im Blutrausch viele eurer Feinde getötet hast?‹
Auch diesen Vorwurf musste ich bestätigen.
›Stimmt es, dass du einem feindlichen Kämpfer mit Namen Umar ibn al-Mustansir aus meiner Sippe das Leben gerettet hast?‹
Wie gerne bejahte ich diesmal seine Frage! Aber Abu Hassan wollte noch mehr wissen.
›Stimmt es, dass Umar dir eine Münze schenkte, die für ihn selbst hohe Bedeutung hatte, weil ihm dieser Talisman mehrfach das Leben rettete?‹«
Endlich kam Henri zu der Stelle in seiner Erzählung, auf die Uthman mit Spannung gewartet hatte. »Ich zeigte dem Würdenträger aus der Sippe deines Vaters deutlich meine Freude und Dankbarkeit und zog mein Medaillon an dem Lederband hervor. Die Mamelucken hatten es, in ihrem Eifer, mich mehrfach unterzutauchen, zu meinem Glück übersehen. Abu Hassan betrachtete zufrieden die Münze und prüfte sie mit den Zähnen auf ihre Echtheit. Seine Stimme wurde noch leiser. ›Dann weißt du auch, dass unsere Sippe in Syrien beheimatet ist. Wir Syrer sind keine Mamelucken. Vor allem wirst du jetzt begreifen, warum ich dich aus den Händen dieser zwielichtigen Franziskaner gerettet habe. Diese Leute sind gefährlich.‹«
»Das kann man allerdings bestätigen«, meinte Uthman. »Hoffentlich sind sie aus deinem Leben verschwunden.«
»Leider nein«, seufzte Henri. »Auch nicht aus dem Leben von Abu Hassan. ›Ich bin nicht nur Syrer‹, erklärte er mir feierlich, ›sondern auch ein gläubiger Anhänger unseres Propheten. Du aber bist Christ. Und doch soll dieser Unterschied zwischen uns keine Gültigkeit haben. Sieh mich als deinen Bruder an! Ich möchte dir ein Bündnis vorschlagen.‹«
»Welch wunderbare Wendung hat dein Aufenthalt in Jerusalem genommen!«, rief Uthman und klatschte vor Begeisterung in die Hände. »Sind nicht auch wir beide zu Brüdern geworden?«
»Ja«, bestätigte Henri. »Durch die Erlebnisse, die wir miteinander durchgestanden haben, sind wir weit mehr als Gefährten. Damals in Jerusalem war ich froh, wenigstens einen brüderlichen Beschützer gefunden zu haben. Aber es endete so, dass nicht er mich, sondern ich ihn beschützen musste!