»Du wirst dich niemals ändern«, sagte Henri kopfschüttelnd. »Warten wir ab, was das Mädchen uns zu sagen hat! Ich vertraue ihr.«
7
»Heute werde ich dir einmal etwas erzählen«, schlug Uthman vor, als sich der Mond am Himmel zeigte. »Wenn ich auch nicht so ein guter Erzähler bin wie du, so wird uns doch die Zeit bis Mitternacht nicht zu lang werden.«
»Wovon wirst du uns berichten?«, fragte Henri. »Von den Lehren des Propheten Muhammad?«
Uthman lachte vergnügt. »Nicht im Entferntesten. Ich werde dir eine Geschichte erzählen, die ich oft von meiner Mutter gehört habe, bevor mein Vater meine Erziehung übernommen hatte. In der fünfhundertachtunddreißigsten sowie der folgenden Nacht erzählte Schehrezâd dem König Schehjirâr von Sindbad, dem Seefahrer. Vielleicht hast du schon von den Erzählungen aus den Tausendundein Nächten gehört. Ich bin aber sehr gespannt, ob du auch die richtige Lehre für uns dieser Geschichte entnehmen kannst.«
»Das hoffe ich doch sehr«, erwiderte Henri.
»Dann fange ich jetzt an. Sindbad, der das Erbe seines Vaters verprasst hatte, wollte in fremde Länder reisen, um dort Handel zu treiben. In der Stadt Basra bestieg er mit anderen Kaufleuten ein Schiff. Sie segelten von Insel zu Insel, von Land zu Land. Eines Tages sichteten sie ein Eiland, das einem Paradiesgarten glich.«
»Da kann man nur hoffen, dass auch Mallorca einem Paradiesgarten gleicht«, warf Henri ein.
»Höre erst einmal, was das für eine Insel war!«, mahnte Uthman. »Die vermeintliche Insel war nämlich ein großer Fisch, auf dem sich Sand abgelagert hatte und Bäume gewachsen waren. Der Kapitän hatte Anker werfen und die Kaufleute an Land gehen lassen.«
»Ich ahne Schreckliches«, flüsterte Henri.
»Zu Recht siehst du unangenehme Überraschungen voraus. Denn als die Kaufleute ein Feuer entzündet hatten, um sich in der Glut eine Mahlzeit zu bereiten, spürte der Fisch die Hitze und bewegte sich. Die Kaufleute blieben ahnungslos, aber der Kapitän, der an Bord geblieben war, schrie plötzlich mit lauter Stimme: ›Ihr Leute, rettet euer Leben! Was ihr für eine Insel haltet, ist ein großer Fisch, der bald in der Tiefe verschwinden wird. Lasst eure Sachen im Stich, und kommt an Bord, so schnell ihr könnt! Bringt euch in Sicherheit, ehe das Verderben über euch kommt!‹«
»Man kann nur hoffen, dass dieser Sindbad alle seine Waren liegen ließ, um das Schiff noch zu erreichen«, sagte Henri.
Aber Uthman schüttelte den Kopf. »Warum auch immer! Sindbad war unter denen, die mit dem Fisch und allem, was darauf war, in tosendem Wasser und brandenden Wogen versank.«
»Das ist doch nicht etwa das Ende der Geschichte?«, fragte Henri besorgt.
»Nein, es fehlt noch die Lehre, die dir diese Geschichte vermitteln soll. Der Kapitän hatte nämlich inzwischen Segel setzen lassen und war mit denen davongefahren, die sich an Bord gerettet hatten. Er dachte überhaupt nicht daran, sich um die Ertrinkenden zu kümmern.«
»Aha!«, sagte Henri, mehr nicht.
»Nun folgt das, was du sicher erwartet hast«, fuhr Uthman fort. »Denn Allah, der Erhabene, behütete Sindbad und rettete ihn vor dem Tod des Ertrinkens. Er schickte ihm nämlich einen großen hölzernen Zuber, in dem die Kaufleute auf der Insel zuvor ihre Sachen gewaschen hatten. Sindbad klammerte sich an ihn, setzte sich rittlings darauf und ruderte mit seinen Beinen im Wasser. In dieser Lage verbrachte er einen Tag und eine Nacht. Aber dann trieben ihn günstige Winde zu einer Insel mit einer hohen Steilküste.«
»Wahrscheinlich kam ein großer Vogel über das Meer, an dessen Beinen er sich anklammern und an Land retten konnte«, mutmaßte Henri.
»Kennst du einen Vogel, der einen Menschen tragen kann?«, fragte Uthman fast ärgerlich. »Ich nicht! Aber Äste ragten über das Wasser heraus. An diesen Zweigen konnte sich Sindbad festhalten, entlangklettern und schließlich auf die Insel springen, obwohl seine Füße von Fischen zerbissen waren. So entkam Sindbad dem Tod.«
Uthman schwieg und blickte über das Meer, in dem sich der Mond spiegelte, sodass die Wellenkämme silbern leuchteten, um gleich darauf in einem dunkelblauen Tal zu verschwinden.
»Ich glaube, dass ich die Lehre dieser Geschichte verstanden habe«, sagte Henri nach einer geraumen Weile des Schweigens.
»Dann lasse mich hören, was deiner Meinung nach Schehrezâd dem König Schehjirâr und damit auch uns sagen wollte!«
»Ich denke doch, dass du diese Geschichte erzählt hast, um einen Bezug zu unserer Seefahrt herzustellen. Wenn das so ist, sollten wir vermeiden, dass Ernesto di Vidalcosta uns auf einer Insel an Land setzt, von deren Schönheit er uns vorschwärmt. Später stellt sich nämlich dann heraus, dass dieses Eiland für uns nicht etwa paradiesisch, sondern höchst gefährlich ist.«
»Richtig!«, rief Uthman begeistert.
»Aber das ist noch nicht alles«, fuhr Henri fort. »In entscheidenden, nämlich lebensbedrohenden Augenblicken sollte man nicht an Reichtum und materielle Güter denken. Sie erweisen sich für gewöhnlich als völlig unnötig, wenn es um das nackte Leben geht.«
»Richtig!«, rief Uthman und fügte hinzu: »Das sollte auch für deinen Templerschatz gelten.«
»Damit magst du nicht ganz Unrecht haben«, gab Henri zu. »Aber das Wichtigste an dieser Geschichte ist Gottes Hilfe, den du Allah nennst. Ohne den Beistand des allmächtigen himmlischen Vaters wäre Sindbad elend ertrunken. Oft aber können wir einen solchen Zauber nicht wahrnehmen. Wir erkennen nicht, dass er ein Werkzeug Gottes zu unserer Rettung ist.«
Uthman sah nachdenklich vor sich hin. »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Dann wäre der tiefe Sinn dieser Geschichte, stets auf Allah zu vertrauen. Er wird uns auch auf dieser Seereise helfen und uns in jeder Gefahr zur Seite stehen.«
»Darum werde ich beten«, schloss Henri die Unterhaltung.
Der Mond war ein gutes Stück am Himmel weitergewandert und hatte sich hinter dem Segel versteckt. Der silberne Glanz auf den Wogen war verschwunden. Die Wellen wirkten jetzt wie dunkle Berge und Täler, die in Bewegung geraten waren. Der Wind hatte aufgefrischt, und die beiden suchten die Wärme der hölzernen Planken, die noch ein wenig von dem Sonnenlicht gespeichert hatten.
»Mitternacht muss doch schon lange vorüber sein«, meinte Uthman. »Wo bleibt denn nur Brunella?«
»Ich fürchte, dass sie in dieser Nacht gar nicht mehr kommen wird«, äußerte Henri seine Bedenken. »Sieh mal, wer die Wache übernommen hat!«
Uthman stand auf, um in der Finsternis besser sehen zu können.
»Verflucht sei Satan, der seine Hände im Spiel hat! Das ist Arturo, der Brunella als seine Beute ansieht. Ob er etwas von ihren Absichten erfahren hat? Was wollte sie uns wohl mitteilen?«
»Vielleicht werden wir das morgen erfahren«, tröstete Henri.
»Morgen kann alles viel zu spät sein«, zischte Uthman, der seine Wut nur mühsam unterdrücken konnte. »Ich schlage vor, dass wir Arturo unschädlich machen.«
Henri legte den Finger auf die Lippen, weil Uthman in seinem Zorn viel zu laut gesprochen hatte. »Was stellst du dir denn unter unschädlich machen vor?«
»Genau das, was ich schon am liebsten mit Ernesto di Vidalcosta gemacht hätte, nämlich den Fischen zum Fraß vorwerfen.«
»Du kennst genauso gut die Gründe«, entgegnete Henri ärgerlich, »warum das nicht möglich ist. Jeder wird wissen, wer diese Tat verübt hat. Im Mittelmeer gibt es kein geheimnisvolles Meeresungeheuer, das Arturo über die Reling ins Meer reißen könnte. Ebenso wenig wird man glauben, dass einer der heidnischen Götzen oder ein Dämon den Wogen entstiegen ist, um Arturo zu sich zu holen.«