»Warum verhöhnst du mich?«, klagte Uthman. »Ich suche ja nur nach einem Ausweg.«
»Der einzige Ausweg zeigt sich darin, Geduld und Wachsamkeit zu üben«, erwiderte Henri. »Und bitte lass dir nicht einfallen, heimlich auf die oberen Deckaufbauten zu klettern, um Brunella mit Gewalt herabzuholen.«
»Kannst du Gedanken lesen?«, fragte Uthman und musste lachen.
Henri lächelte. »Das nicht, aber ich kenne dich inzwischen!«
Auch in der nächsten Nacht ließ sich Brunella nicht sehen. Arturo hatte wieder die Wache in den Stunden um Mitternacht übernommen. Darum schlug Henri vor, am besten auf einen günstigen Zufall zu warten, der es ermöglichte, mit Brunella zu sprechen.
»Du könntest uns die lange Zeitspanne des Wartens verkürzen, wenn du weiter von deinen Abenteuern in Jerusalem erzählen würdest«, bat Uthman. »Abu Hassan wollte dir den Felsendom zeigen, unseren Qubbet as-sacra. Für uns ist dieser Felsen der heiligste Platz in Jerusalem, weil von dort der Prophet in die Himmel gereist ist. Ich kann es kaum erwarten, was du mir darüber berichtest.«
Uthman dachte sehnsuchtsvoll an die Gnade, die dem Propheten an diesem Ort gewährt worden war. »Alsdann«, so berichtete Muhammad selbst in einem gut bezeugten Hadith, »brachte mich der Engel Dschibril, Gabriel, nach Jerusalem, wo wir mit den Engeln gemeinsam das Gebet verrichteten. Dort waren die Seelen der Propheten versammelt, um den Herrn zu lobpreisen.« Gabriel führte Muhammad durch die Himmel; mit Abraham hatte der Prophet dort gesprochen, mit Moses und Jesus. Als ihr Vorbeter pries er zusammen mit ihnen den Allerhöchsten. Schließlich erblickte er die Herrlichkeit und das Licht Gottes. »Das Gleichnis Seines Lichts«, hieß es in der Sure An-Nur, »ist wie eine Nische, worin sich eine Lampe befindet. Die Lampe ist in einem Glas. Das Glas ist gleichsam ein glitzernder Stern – angezündet von einem gesegneten Baum, einem Ölbaum, weder vom Osten noch vom Westen, dessen Öl beinah leuchten würde, auch wenn das Feuer es nicht berührte.
Licht über Licht. Allah leitet zu Seinem Licht, wen Er will.«
»Ein wenig musst du dich noch gedulden«, riss Henri Uthman aus seinen Gedanken. »Denn aus dem Besuch des Felsendoms wurde vorerst nichts. In aller Frühe wurde ich zu Abu Hassan gerufen. Deutlich konnte man ihm seine Sorge anmerken. Seine Stimme klang erregt.
›Der Emir hat mich zu sich befohlen, und zwar solle ich mich ohne Verzögerung bei ihm einfinden. Ich fürchte, dass er mich wegen der Verleumdungen zur Rede stellen will. Es geht jetzt darum, alle seine Bedenken zu zerstreuen. Was mich aber vor allem beunruhigt, ist sein Befehl, du sollest ebenfalls vor ihm erscheinen.‹
Auch ich erschrak. Was hatte dieser Befehl zu bedeuten? Woher wusste der Emir überhaupt von meiner Anwesenheit in Jerusalem? Gab es Zuträger, die ihm von der Ankunft eines ehemaligen Kreuzritters berichtet hatten? Bestanden irgendwelche Querverbindungen zwischen den falschen Franziskanern und treuen Anhängern des Emirs? Ich vermochte nicht, alle diese Gedanken in eine vernünftige Ordnung zu bringen. ›Wie muss ich mich verhalten?‹, fragte ich ein wenig ratlos.
Abu Hassan legte die Hand über die Stirn. ›Darüber habe ich reiflich nachgedacht, nachdem mich der Befehl des Emirs erreicht hatte. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir möglichst nahe bei der Wahrheit bleiben sollten.‹
›Ist das nicht zu gefährlich?‹, gab ich zu bedenken. ›Ich habe in Akkon gegen die Mamelucken gekämpft, und, um es zu gestehen, habe ich mich in einem solchen Blutrausch befunden, dass ich alle Feinde niedergemetzelt habe, die mir vor die Klinge kamen.‹
Der Würdenträger rieb sich mehrmals über den Kopf, als ob diese Bewegung ihn zu einem besseren Gedanken führen könnte. ›Ich sagte möglichst nahe, mehr aber auch nicht. Ich stelle dich wahrheitsgemäß als einen Verwandten aus meiner Sippe vor, der in seiner frühesten Jugend von den Kreuzrittern zu einem falschen Glauben verführt wurde, dem er aber nun abgeschworen hat. Als Kenner der Symbole der Christen wollest du mir nun bei der Renovierung der Mosaiken im Felsendom zur Seite stehen, damit man alles, was nicht dem wahren Glauben entspricht, ausmerzen könne.‹
Ich hatte verstanden, was mein Bruder von mir verlangte, um seine eigene Haut zu retten. Meinen Glauben sollte ich verleugnen, vielleicht sogar an einer Christenverfolgung teilnehmen, im allerschlimmsten Fall sogar meine Gelübde brechen, die ich beim Eintritt in den Orden gelobt hatte. Ich war nahe daran, mich in das Verlies der falschen Franziskaner zurückschicken zu lassen. Aber dir, Uthman, der du mein Freund und ein tapferer Kämpfer bist, gestehe ich voller Scham, dass ich an meinem Leben hing. Darum schlug ich in die Hand Abu Hassans ein, um dieses unheilvolle Bündnis erneut zu besiegeln.
Der Palast des Würdenträgers hatte sich mir in einer Pracht gezeigt, die für mich nicht mehr zu überbieten war. Wie armselig erschienen mir in meiner Erinnerung die Komtureien des Templerordens! Wenn ich daran dachte, dass wir oft zu zweit auf einem Pferd saßen, kam ich mir jetzt auf dem geschmückten Araberhengst wie ein reicher Sultan vor. Ich weiß nicht, ob ich damals käuflich war und langsam Geschmack an dem Wohlleben fand, das mir in Aussicht stand.
Dem Emir hatte es gefallen, jene königlichen Gemächer in Besitz zu nehmen, in denen sich einst die Residenz König Balduins befunden hatte. So glaubte er wohl, an Ansehen zu gewinnen, weil Jerusalem trotz des großartigen mameluckischen Sieges gegen die Mongolen zunächst von Gouverneuren verwaltet wurde. Wie Abu Hassan mir auf dem Weg zu dem Palast des Emirs verriet, fühlte sich der Emir in seinem Stolz verletzt, weil er dem Vizekönig von Damaskus unterstellt war.
Du kannst dir denken, dass ich das Gefühl hatte, in einen Wust von Intrigen, Verleumdungen und scheinheiligen Freundschaften eingesponnen zu sein. Ich bin ein gläubiger Tempelritter, der sich fest in die Regeln des Ordens eingebunden fühlt, und ich kam mir damals gegenüber diesen Machenschaften wehrlos vor.«
»Ich gebe es nicht gerne zu«, bekannte Uthman, »aber wir Menschen aus dem Orient sind Meister der Verstellung. Nicht jeder, der dir freundschaftlich die Hand reicht, ist auch ein wahrer Freund zu nennen. Dich aber achte ich gerade deswegen, weil du einem Freund niemals mit Arglist und Täuschung begegnen wirst.«
»Ich danke dir für die Worte, mit denen du unsere Freundschaft bekräftigst«, sagte Henri. »Aber auch bei uns Christen gibt es Menschen, die ihre Freunde verraten. In unseren biblischen Geschichten könntest du es nachlesen, wie Jesus Christus durch einen seiner Jünger verraten wurde.«
Uthman erhob sich von den Planken und stützte sich auf seine Ellenbogen. »Deinen letzten Worten entnehme ich, dass das Verhalten des Emirs dich in Unruhe versetzt hatte.«
»Allerdings«, bestätigte Henri. »Von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass mir von diesem Mann trotz seines freundlichen Gebarens Gefahr drohte. Da saß dieser Emir in seinen kostbaren seidenen Gewändern in der ehemaligen königlichen Residenz und gab mir einen herrischen Wink, ich solle mich vor ihm niederknien.«
»Natürlich folgtest du diesem Wink?« Uthman hielt es für selbstverständlich.
»Es war das erste und das letzte Mal, dass ich mich vor dem Emir auf die Knie niederließ. Unsere späteren Begegnungen fanden Auge in Auge beiderseits bewaffnet statt; allerdings nur bis zu dem Tag, an dem wir Freunde wurden. Aber dazwischen lagen Wochen, in denen wir uns umkreisten und belauerten. Auch ich musste notgedrungen die Kunst der Verstellung lernen, um das eigene Leben zu retten. Damals, als wir zum erstenmal aufeinander trafen, glaubte der Emir, ein Wolf zu sein, dem ein junges Lamm als leichte Beute zufallen würde. So ähnlich fühlte ich mich auch. Dass diese Art der Beziehung für mich zu ändern sein könnte, wagte ich gar nicht zu hoffen. Und doch kam es später so, dass wir zu zwei gleich starken Wölfen wurden.«