Henri nickte beifällig. »Das hört sich gut an. In einem solchen Völkergemisch können wir gut untertauchen.«
»Du hast gefragt, welche Rolle Cordoba gespielt hat«, fuhr Uthman müde fort. »Das kann ich dir erklären. Menorca kam nämlich rund 280 Jahre nach der Auswanderung Muhammads von Mekka nach Medina, im Jahre 902 eurer Zeitrechnung, unter das Kalifat von Cordoba. Wenn es uns möglich ist, in Ciutadella an Land zu gehen, können wir dort vielleicht noch die ehemalige arabische Moschee sehen. Aber wahrscheinlich hat man sie zu einer christlichen Kathedrale umgebaut. Der Alcazar, der ehemalige arabische Statthalterpalast, so habe ich gehört, soll jedoch noch erhalten sein.«
Henri war froh, dass Uthman schläfrig wirkte. Denn sonst hätten seine stolzen Ausführungen über das Kalifat von Cordoba mit Sicherheit vor dem Morgengauen kein Ende gefunden. Jetzt aber hatte sich Uthman auf dem hölzernen Deck ausgestreckt. Er wies zum Himmel. »Du verstehst doch so viel von der Astronomie. Wie bist du eigentlich als Tempelritter dazu gekommen, dich mit der Sternenwelt zu beschäftigen? Denn eigentlich waren es doch wir Araber, die durch die Trennung von Astronomie und Astrologie diese Wissenschaft auf ein für euch Christen unerreichbares Niveau gebracht haben.«
»Darüber ließe sich streiten«, erwiderte Henri. »Aber ich gebe zu, dass mein Wissensdurst, das himmlische Firmament zu erforschen, auf der Grundlage einer biblischen Geschichte entstanden ist.«
»Das hätte ich mir denken können!«, rief Uthman. »Worum ging es denn da?«
»Um einen Stern, dem die drei Weisen aus dem Morgenland gefolgt sind. So fanden sie, wie ihnen prophezeit worden war, in Bethlehem ein Kind, das sie anbeteten und mit Gold, Weihrauch und Myrrhe beschenkten.«
»Du meinst euren Propheten Jesus, den Sohn der Maria, der dort in einem Stall geboren wurde?«, fragte Uthman.
»Ja, ich spreche von dem Stern zu Bethlehem, von dem die einfachen Leute glauben, die drei Sterndeuter Caspar, Melchior und Balthasar seien ihm gefolgt. Für manche gilt dieses C M B als zauberkräftiges Zeichen. Es dient dazu, Gegenstände und Gebäude vor dem Zugriff von Dieben zu bewahren. Für uns Christen aber gelten die Anfangsbuchstaben der Namen C M B als Bitte: Christus mansionem benedicat – Christus möge dieses Haus segnen.«
Uthman begann zu gähnen. Darum fügte Henri nur noch einen einzigen Satz an. »Ich aber wollte den Weg der drei Sterndeuter kennen lernen. Aber aus ganz anderen Gründen gelangte ich nach Jerusalem, wo die drei Weisen König Herodes ihr Wissen mitteilten.«
Uthmans Interesse an der biblischen Geschichte war erschöpft, denn er wusste ja alles, was es über Jesus – Gott segne ihn und schenke ihm Heil! – zu wissen gab, aus dem Koran: dass er durch Gottes Wort von einer Jungfrau geboren, von Gott geliebt und zu ihm gerufen worden war, um am Tage des Gerichts Zeugnis abzulegen für die wahren Gläubigen des Islams. Wir ließen Jesus, den Sohn der Maria, hieß es in der Sure vom Tisch, in ihren Spuren folgen, zur Erfüllung dessen, was schon vor ihm in der Thora war; und Wir gaben ihm das Evangelium, worin Führung und Licht war, eine Führung und Ermahnung für die Gottesfürchtigen… Wenn Allah sagen wird: »O Jesus, Sohn der Maria, gedenke Meiner Gnade gegen dich und gegen deine Mutter; wie Ich dich stärkte mit der heiligen Offenbarung – du sprachst zu den Menschen sowohl im Kindesalter wie auch im Mannesalter; und wie Ich dich die Schrift und die Weisheit lehrte und die Thora und das Evangelium; und wie du die Blinden heiltest und die Aussätzigen auf Mein Gebot; und wie du die Toten erwecktest auf Mein Geheiß; und wie Ich die Kinder Israels von dir abhielt, als du mit deutlichen Zeichen zu ihnen kamst, die Ungläubigen unter ihnen aber sprachen: ›Das ist nichts als offenkundige Täuschung.‹« Was die Christen sonst an Aberglauben über Jesus hatten, wie diese Sterndeuter, den Kreuzestod, dass Jesus ein Gott sei, das interessierte ihn wenig, erzürnte ihn sogar: Sprich: »Er ist Allah, der Einzige; Allah, der Unabhängige und von allen Angeflehte. Er zeugt nicht und ward nicht gezeugt; und keiner ist Ihm gleich«, hieß es in der Sure von der Reinheit des Vertrauens, Al-Ichlas. Doch mochten die Christen auch jede Menge Unfug über den Propheten Jesus erzählen, so hatte Gott doch entschieden, seine Anhänger über jene zu setzen, die ungläubig waren oder viele Götzen anbeteten.
Aber obwohl Uthman die kindischen Vorstellungen der Christen langweilten, weil ihre Fabeln dem reinen, strahlenden Licht des wahren Glaubens so sehr unterlegen waren, war seine Müdigkeit nun plötzlich verflogen. Ihn faszinierte etwas anderes: »Du warst in Jerusalem, in unserem arabischen Al-Qudz?«, rief er begeistert. »Davon musst du mir erzählen!«
»Jerusalem wurde für mich ein langes und ereignisreiches Abenteuer. Aber auf unserer Seereise nach Menorca bleibt genug Zeit, um dir davon zu berichten«, versprach Henri. »Das heißt, wenn wir es bis dorthin schaffen!«
Der Wind hatte sich gelegt, und die Kogge dümpelte mit schlaffen Segeln durch niedrige Wellen. Das gleichmäßige Schaukeln schläferte die beiden ein. Zum ersten Mal seit dem Mord an König Philipp und dem Giftanschlag auf den Papst fanden sie zu einem ruhigen und traumlosen Schlaf.
Sie wachten erst auf, als der Polarstern schon verblasst war. Auf Deck ertönten laute Rufe. »Was machen die da?«, fragte Uthman schlaftrunken. Aber Henri konnte ihm keine Auskunft geben. Er beobachtete, wie einer der Seemänner etwas Talg in einen Bleikegel schmierte, der an einer Leine befestigt war und mit einem weiten Wurf über die Bordwand befördert wurde. Das Frachtschiff befand sich auch an diesem Morgen hinter ihnen, etwas näher vielleicht, doch genau konnte Henri das nicht sagen. Auch Uthman sah mit einem Schulterzucken zum Horizont. Offenbar stellte es keine Gefahr dar.
Inzwischen hatte sich auch der Kapitän des Schiffes eingefunden, der aufmerksam den Inhalt des Kegels betrachtete, den man wieder an Bord gezogen hatte.
»Könnt Ihr mir erklären, was dieser Vorgang bedeutet?«, fragte Henri wissbegierig.
Die Antwort flößte ihm Bewunderung ein. Wie viel gab es doch, wovon er noch niemals gehört hatte! Der Kapitän gab gerne Auskunft. »Die Bodenprobe, die gemessene Tiefe und die Farbe des Meeres geben mir die Möglichkeit, unseren Standort zu bestimmen, sobald der Polarstern verblasst und das Festland außer Sicht ist. Bei Tageslicht können wir uns in Ufernähe natürlich an Flussmündungen, Hügeln, Kirchen, Dünenketten oder auch Bäumen orientieren.«
Henri bedankte sich für die Erklärung. Er nutzte jede Gelegenheit, um etwas zu lernen, was ihm bisher unbekannt war. Ich werde eine Seekarte anfertigen, dachte er.
Aber als er ein Pergament und einen Stift hervorgezogen hatte, tauchte Uthman auf, der mit den Seeleuten eine karge Mahlzeit zu sich genommen und einen Zwieback in die Hosentasche gesteckt hatte. »Du hast mir doch versprochen, von deinen Erlebnissen in Jerusalem zu erzählen.«
Henri legte sein Schreibgerät beiseite. Nicht nur für die Christenheit war Jerusalem eine heilige Stätte. Dem Islam galt Al-Qudz als drittheiligste Stadt nach Mekka und Medina. Von Mekka aus war Muhammad eines Nachts auf seiner geflügelten Stute Buraq nach Jerusalem geflogen.
Der Tempelritter Henri hatte diese Darstellung immer für einen Traum gehalten. Vom Tempelplatz in Jerusalem aus sei Muhammad schließlich zu seiner nächtlichen Himmelsreise aufgebrochen, die ihn durch die sieben Himmel bis vor den Thron Gottes geführt habe. Henri wollte seinen Freund Uthman nicht beleidigen, weil der dieses Märchen sicher glaubte. Es würde auch nicht leicht sein, über seine Erlebnisse in Jerusalem zu berichten. Denn er müsste eigentlich auch erwähnen, dass Jerusalem der Ort war, an dem Jesus Christus, der Herr, gelitten hatte und gestorben war. Aber auch den Juden war diese Stadt heilig, weil Abraham dort seinen Sohn Isaak opfern wollte, und vor allem, weil sich nach den Angaben des Talmud über dem Felsen einst das Allerheiligste des salomonischen Tempels befunden hatte.