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Henri, der schon den Mund geöffnet hatte, um in seiner Erzählung fortzufahren, presste plötzlich die Lippen aufeinander und beobachtete starr den Eingang zu den Unterkünften. »Da kommt auch so ein Wolf, der sich einbildet, mit solchen Schafen, wie wir es sind, könne er leicht fertig werden«, flüsterte er kaum vernehmbar.

Ernesto di Vidalcosta trat freundlich lächelnd näher. Auch so ein Meister der Verstellung, dachte Henri. Aber ich habe meine Lektion in Jerusalem gelernt.

»Nun werdet Ihr bald wieder festen Boden unter den Füßen spüren. Ich rechne damit, dass wir in drei Tagen in einer Bucht auf Mallorca anlegen können. Leider darf niemand von uns das Schiff verlassen, bevor nicht der Medicus an Bord war, um unseren Schwerkranken zu untersuchen. Hoffentlich verhängt er keine Quarantäne.

Dann würde es keinem von uns erlaubt sein, das Schiff zu verlassen. Aber diesen schlimmen Fall wollen wir doch gar nicht erst annehmen.« Der Kapitän nickte ermutigend und verließ seine beiden Gäste.

»Was diese neue Vorstellung sollte, ist mir rätselhaft«, sagte Uthman. »Jedenfalls wird er versuchen, uns an Bord festzuhalten. Aber warum?«

Henri richtete seine Blicke über das Meer. Am Horizont zeigte sich noch kein Küstenstreifen. »Vorläufig weiß auch ich nicht so recht, was ich von dieser neuen Maßnahme halten soll. Wenn er illegale Waren laden will, müsste er doch eigentlich froh sein, wenn wir an Land auf Nimmerwiedersehen verschwinden werden. Vielleicht fürchtet er die Gefahr, dass wir bei den Behörden eine Anzeige erstatten.«

»Das leuchtet mir ein«, bestätigte Uthman. »Aber dann dürfte er uns auch nicht in Menorca entkommen lassen.«

»Denkt man diese Auslegung zu Ende, kommt man zwangsläufig zu dem Schluss, dass uns zwischen Mallorca und Menorca ein unliebsamer Zwischenfall treffen wird. Da gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder er lässt uns durch einige kräftige Kerle über Bord werfen, oder aber er hat einen Treffpunkt auf hoher See mit Piraten vereinbart, denen er seine illegale Ladung und auch uns als Dreingabe verkauft.«

»Doch wohl das Letztere«, meinte Uthman. »Denn ein Mord? Immerhin könnte es doch sein, dass ihm einige Männer der Besatzung nicht gut gesonnen sind und ihn am Ende der Fahrt bei der Reederei anzeigen.«

»Falls die meisten nicht auch noch mit ihm unter einer Decke stecken«, murmelte Henri argwöhnisch. »Aber wir wollen nicht gleich das Schlimmste annehmen.«

Der Himmel hatte sich bewölkt, und die schmale Mondsichel lag nun vollständig hinter den Wolken versteckt. Uthman wehrte sich gegen den Schlaf, seine Damaszenerklinge lag griffbereit neben ihm. Er hatte es übernommen, in den ersten Nachtstunden Wache zu halten, und starrte beharrlich ins Dunkle.

Später machte er sich bittere Vorwürfe, unaufmerksam gewesen zu sein. Plötzlich berührte ihn jemand im Nacken. Blitzschnell fuhr er herum, erhob die Damaszenerklinge und hätte zugestochen, wenn der vermeintliche Angreifer nicht einen leisen Schrei ausgestoßen hätte. Es war eine weibliche Stimme, und eine schlanke Gestalt warf sich ihm in den Schoß: Brunella, die Piratenbraut!

»Ich habe nicht viel Zeit«, flüsterte sie kaum hörbar. »Arturo ist nach zwei Nachtwachen nun endlich müde geworden. Aber er hört die Flöhe husten und könnte bald aufwachen.«

»Komm näher!«, bat Uthman. »Sonst kann ich dich nicht verstehen.« Er drückte sie an sich und nahm sie in den Arm. Aber sie entzog sich seinem Griff.

»Höre gut zu! Ich habe in Erfahrung gebracht, dass wir nicht in einer Bucht landen werden, die zu Mallorca gehört, sondern auf der vorgelagerten kleinen Insel Cabrera. Dort erwartet uns eine üble Gesellschaft, die dem Kapitän gestohlenes Gut verkauft. Er lässt niemand von Bord gehen, der die Verkaufsverhandlungen beobachten könnte.«

Uthman versuchte, das Mädchen zu küssen. Aber sie schob ihn beiseite. »Dazu wird später vielleicht Gelegenheit sein! Merke dir lieber jedes Wort! In einer versteckten Bucht vor Menorca wartet in Ufernähe ein Piratenschiff. Bete zu Gott, dass es sich dabei um die Schaluppe meines Geliebten handelt! Er wird die Kogge entern, auf der wir uns jetzt noch befinden. Wenn es so ist, wie ich es mir erhoffe, werde ich euch ein Zeichen geben! Helft mir von Bord und lasst euch selbst gefangen nehmen. Ich schwöre dir bei der Jungfrau Maria und allen Heiligen, dass euch dann nichts geschehen wird. Vertraue mir!« Sie löste sich aus seinem Arm und huschte davon.

Henri, der es von Jugend an gewohnt war, auf das leiseste Geräusch zu achten, hatte die Unterhaltung verfolgt. Er richtete sich auf.

»Es bleibt uns nichts anderes übrig«, sagte er voller Kummer, »als ihr zu vertrauen. Ernesto di Vidalcosta plant mit Sicherheit, irgendwo an Land seine Ware zu verkaufen. Er wird uns als Zeugen dieser betrügerischen Aktion umbringen lassen.«

Uthman nickte. »Du hast Recht. Denn ich habe das Mädchen verteidigt und vor den Stockschlägen des Kapitäns geschützt. Auch unter Piraten gilt hoffentlich immer noch der alte römische Spruch: Do ut des – Ich gebe, damit du gibst.«

8

Zwei weitere Nächte vergingen, ehe am Horizont ein schmaler Strich Küste zu sehen war. »Jetzt könnten wir Joshua mit seiner Brille gebrauchen«, scherzte Uthman. »Sicher würde er uns genau sagen können, ob diese Insel so paradiesisch ist wie das Eiland, dem Sindbad der Seefahrer beinahe zum Opfer gefallen wäre.«

»Gerne hätte ich Joshua bei uns«, meinte Henri. »Aber seine Brille brauchen wir in diesem Fall nicht. Das könnte Menorca sein, falls wir an der südlichen Spitze dieser Insel vorbeisegeln.«

Uthman schlug mit der Faust auf die hölzerne Reling. »Wenn ich genau wüsste, dass wir uns kurz vor unserem eigentlichen Ziel befinden, würde ich von dem Kapitän verlangen, dass er uns mit dem Beiboot an Land rudern lässt. Dieses Wagnis sollte man eingehen.«

»Dann richte doch diese Bitte an unseren Kapitän. Denn Ernesto di Vidalcosta kommt eben auf uns zu. Sieh nur, wie er strahlt! Sicher haben die Brieftauben ihm gute Nachrichten überbracht.«

Der Kapitän wedelte mit einem Bogen Papier in der Luft herum. »Zur Erinnerung an diese Segelfahrt möchte ich Euch eine Seekarte überreichen. Ich hoffe, dass Euch diese von mir gefertigte Aufzeichnung auf vielen weiteren Reisen von Nutzen sein wird.«

Henri nahm die Karte mit einer angedeuteten Verbeugung entgegen.

»Auf dieser Karte ist vieles falsch eingetragen«, stellte er dann fest, nachdem der Kapitän sie verlassen und er das Papier ausgiebig studiert hatte. »Glücklicherweise habe ich gelernt, mit Karten umzugehen. Ich habe mir die Seekarte, die er uns neulich gezeigt hat, sehr gut gemerkt. Auch die Sterne haben mir geholfen, Orientierungspunkte zu finden.«

»Ohne Zweifel will er uns irreführen«, stellte Uthman fest. »Vielleicht lässt sich aber gerade aufgrund der falschen Eintragungen die richtige Ortsbestimmung festlegen.«

Sie beugten sich beide über die Karte und waren sich einig, dass der schmale Landstreifen nicht Menorca sein konnte. Vielleicht handelte es sich sogar nur um eine Sandbank. Allzu bald verschwand die vermeintliche Küste wieder hinter dem Horizont. Aber die Nähe von Menorca beschäftigte sie weiter.

»Ich habe gelesen, dass die weite Ebene im südlichen Menorca von mehr als dreißig Schluchten zerschnitten ist. Diese Barrancs wurden früher, als die Insel noch mehr Wasser hatte, von Flüssen in den weichen Kalksandstein gewaschen.«

»Dann müssen wir aufpassen, dass uns der Kapitän nicht im Süden an Land setzt. Denn in der Ebene gibt es für uns kein Versteck, und die Schluchten lassen sich nur schwer überwinden.«

»Auch die Sumpfgebiete sollten wir meiden«, riet Uthman. »Dort gibt es Reiher, Flamingos und Störche. Das mag für Vögel ein idealer Ort sein. Aber für uns Menschen bergen Sumpfgebiete viele Gefahren.«