»Sobald wir also die Möglichkeit haben, in Menorca an Land zu gehen, werden wir uns nach Norden wenden. In Mallorca, falls wir es jemals erreichen sollten, bleiben wir jedenfalls an Bord. Denn Brunella hat uns dringend davon abgeraten, das Schiff dort oder auf der vorgelagerten Insel Cabrera zu verlassen.«
Henri dachte darüber nach, ob er jemals in einen ähnlichen Zwiespalt geraten war. Was hatten ihn die Gesetze der Templer gelehrt? In erster Linie einen festen Glauben. Aber welche Strategie für einen Kampf, der vom Gegner nicht offen, sondern mit Hinterlist geführt wurde? Die Templerburgen waren nicht selten durch Verrat verloren gegangen. Ein weiterer Nachteil ergab sich jedoch daraus, dass die Kämpfe zu Land ihm zwar vertraut waren, aber auf See galten andere Voraussetzungen.
Er hatte mit einigen Kreuzfahrern gesprochen, die von weit her gekommen waren, zu Fuß und zu Pferd bis nach Italien, wo die Reise über das Mittelmeer begann. Es sollte eine Route gegeben haben, die von Jütland zum Sinfal in Flandern, von da über das Kap von Prawle in England und Pointe de Saint Mathieu, durch die Bretagne nach La Corulla, Lissabon, schließlich zur Straße von Gibraltar, an der Ostküste Spaniens entlang über Tarragona und Barcelona nach Marseille geführt hatte, um über Messina Akkon zu erreichen. Man hätte ihm genauso gut von China und Marco Polo erzählen können. Fast alle diese Städte waren für ihn Fremdwörter, die meisten kannte er nur von Karten. Während des siebten Kreuzzugs hatten Genua und Venedig die Seeherrschaft über das Mittelmeer an sich gerissen. Aber sie führten Kriege miteinander, und die Gewinnsucht ihrer Kaufleute hatten Wege zu Städten eröffnet, von denen er noch nie gehört hatte. So waren ihm Kenntnisse des Lebens auf See zum größten Teil verborgen geblieben.
Aber während er über diese Lücken in seiner Bildung nachgrübelte, fielen ihm Verse ein, die er einmal im Psalter gelesen hatte und die ihn in seiner Jugend begeistert hatten. Dieser Psalm trug die Überschrift: Gebet um Errettung vor boshaften Feinden. Er brauchte nicht lange nachzudenken, bis ihm die Verse wieder einfielen. Denn oft hatte er Gott mit diesen Worten angefleht: »Ergreife Schild und Waffen und mache dich auf, um mir zu helfen! Zücke den Spieß und schütze mich wider meine Verfolger! Sprich zu meiner Seele: Ich bin deine Hilfe!« Er brauchte dann eine Weile, bis ihm der nächste Vers in den Sinn kam, doch beim Gedanken an Ernesto di Vidalcosta fielen sie ihm plötzlich ein. »Es müssen zu Schanden werden, die mir übel wollen. Ihr Weg werde finster und schlüpfrig, und der Engel des Herrn verfolge sie.« Gab es einen besseren Schutzschild gegen solche Menschen wie Ernesto di Vidalcosta? Er fühlte sich gestärkt und getröstet.
Uthman suchte im Koran nach einer Stelle, die ihnen vielleicht Hilfe im Kampf gegen den heuchlerischen Kapitän bieten konnte. In der Sure At-Tahrim, der Sure von der verbotenen Sache, hieß es im 9. Zeichen zwar: »O Prophet, setze dich gegen die Ungläubigen und die Heuchler ein und fasse sie hart an! Ihre Heimstätte ist die Hölle – welch ein schlimmes Ende!« Aber was hatten sie davon, wenn Ernesto di Vidalcosta eines Tages im Höllenfeuer seine Sünden büßen musste? Gar nichts! Den Betrügern und den Lügnern wurde in der Sure Al-Baqarah, die Kuh, eine schmerzhafte Pein angedroht. Die wollte er dem Kapitän gerne bereiten, obwohl er wusste, dass er diese Bestrafung Allah, dem Mächtigen und Weisen, überlassen müsse.
Sie hatten gedankenverloren vor sich hin gesehen und hoben wie auf Befehl ihre Köpfe, um ihre Blicke gen Himmel zu richten. Denn sie kannten sich so gut, dass der eine die Gedanken des anderen teilen konnte.
»Wir sind nicht nur Gläubige, jeder in seiner Religion«, ergriff Henri als Erster das Wort, »sondern wir sind vor allem Kämpfer, aber nicht von der Art, die wild darauf losschlagen, sondern solche, die ihr Vorgehen klug bedenken und dann danach handeln.«
»Ich habe dich verstanden«, stimmte Uthman zu. »Wir werden deine Worte in die Tat umsetzen, wenn uns die nächste Zukunft eine Möglichkeit gibt.«
»Das bedeutet, sobald die Insel Cabrera sichtbar wird, oder notfalls sogar erst, wenn wir dort anlegen werden. Ich schätze, dass dieser Zeitpunkt aufgrund meiner astronomischen Berechnungen in zwei Tagen sein wird. Aber ich werde zur Sicherheit diese Nacht noch einmal den Polarstern ins Visier nehmen.«
»Der Tag ist noch lang«, seufzte Uthman. »Du kennst mich. Mir wird es schwer, nicht schon jetzt den Kampf aufzunehmen. Erzähle mir weiter von deinen Erlebnissen in Jerusalem!«
Henri warf noch einmal einen Blick zu den Unterkünften, ob dort vielleicht eine verdächtige Bewegung zu erkennen war. Aber die Seeleute gingen ruhig ihren Arbeiten nach. Sie hatten die Segelfläche weit ausgebreitet, sodass der Wind ungehindert hineinfahren und die Fahrt beschleunigen konnte. Er glaubte nicht an die Nähe von Mallorca, das der Kapitän so eingetragen hatte, als erreichten sie die Insel in kürzester Zeit. Doch offenbar fuhr er einen Zickzackkurs, um möglichst lange außer Sichtweite des Landes zu bleiben. Noch ließ sich keine Möwe blicken. Aber ein Frachtschiff mit geblähten Segeln war am Horizont zu sehen. Henri entnahm der Entfernung, dass die Kogge sich abseits der üblichen Fahrtroute befand. Er ließ sich neben Uthman nieder und versuchte, die Gedanken auf jene Zeit zu lenken, die er damals in Jerusalem verbracht hatte.
»Ich hatte meinen Bericht an der Stelle unterbrochen, als ich mich im Palast des Emirs befand. Abu Hassan, der vorläufig noch das Vertrauen und die Achtung des Emirs genoss, kniete vor seinem Herrn. Seine Worte erschienen mir allzu demütig, beinahe sogar entwürdigend. ›Großmütiger Herrscher! Ich bitte um die Gnade, diesen jungen Mann, der meiner Sippe entstammt und darum nach dem rechten Glauben strebt, als meinen Gehilfen einzusetzen.‹
Der Emir schwieg und wartete auf weitere Erklärungen. Ich hielt die Lider gesenkt, um dem Emir nicht in die Augen schauen zu müssen. Lügen waren mir verhasst. Erst im Verlauf meines weiteren Lebens habe ich gelernt, Listen anzuwenden, die der Unwahrheit ziemlich nahe kommen.«
»Wie Allah die Lügner bestraft, könnte ich dir aus dem Koran zitieren«, warf Uthman ein. »Ihnen sind die Hölle und das ewige Feuer gewiss. Aber, wie du in der Sure Al-Maedah, der Tisch, im 119. Zeichen lesen könntest, werden die Wahrhaftigen für immer in den Gärten weilen, unter denen Bäche fließen. Das ist das Paradies.«
»Wie steht es denn mit dir?«, stellte Henri diese peinliche Frage. »Bleibst du stets bei der Wahrheit?«
Uthman sah zu Boden und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht immer möglich.«
»Dann wirst du auch verstehen, dass ich mir stillschweigend die Geschichte von dem armen, fehlgeleiteten Jungen anhörte, die Abu Hassan dem Emir auftischte. Diese Notlüge, wie ich sie nennen möchte, hatte den erwünschten Erfolg. Der Emir war damit einverstanden, dass ich meinen Sippenbruder zum Felsendom begleitete, um dort meine Kenntnisse nutzbringend einzusetzen. Jetzt endlich durfte ich mich erheben und dem Emir in die Augen schauen. Seinem Gesichtsausdruck konnte ich entnehmen, dass er sich von meiner Mitarbeit Vorteile versprach. Aber damals wusste ich noch nicht, welchen Nutzen er sich von mir erhoffte.
Am nächsten Tag begaben wir uns zum Tempelplatz, dem heiligsten Ort in Jerusalem. Von meinen Ordensbrüdern hatte ich gehört, dass die Kreuzfahrer dem Felsendom den Namen Templum Domini gegeben hatten, um das Wirken unseres Herrn Jesu Christi mit diesem Bauwerk in Verbindung zu bringen. Abu Hassan war aber hauptsächlich an der sarazenischen Tradition interessiert. Stolz wies er auf den Fußabdruck des Propheten Muhammad, den dieser bei seiner Nachtfahrt in die sieben Himmel auf dem Heiligen Felsen hinterlassen hatte. Er zitierte sogar den Anfang der Sure von der Nachtwanderung: ›Preis dem, der seinen Diener des Nachts entführte, von der heiligen Moschee zur fernen Moschee, deren Umgebung wir gesegnet haben, um ihm unsere Zeichen zu zeigen. Siehe, er ist der Hörende, der Schauende.‹ Ich hatte gehört, dass sich auch Fußspuren von Jesus an dem Felsen befinden sollten. Aber Abu Hassan fand das nicht der Erwähnung wert.