Die Christen hätten den Tempelplatz vollständig verkommen lassen, klagte er. Erst die Anhänger des Propheten hätten die Stelle des Tempels wieder zu einer heiligen Stätte gemacht. Zu Recht hätte Kalif Omar I. darum den Patriarchen von Jerusalem bei der Säuberung durch den Staub kriechen lassen. Das sei eigentlich eine viel zu milde Strafe gewesen. Der Patriarch hätte sich zwar auf Jesus berufen, auf dem Tempelplatz werde kein Stein auf dem anderen bleiben, aber diese Verunglimpfung des heiligen Ortes hätte eine härtere Strafe verdient.
Abu Hassan kannte sich offensichtlich mit der Geschichte des Heiligen Felsens und der Entstehung des Felsendoms aus. Aber er fand es wohl unnötig, mich über etwas zu belehren, was nicht zu unserem Auftrag gehörte. Nur ganz nebenbei erwähnte er eine Stelle aus dem jüdischen Talmud, die besage, die Bundeslade habe auf dem Felsen gestanden.«
»Wieder einmal vermisse ich Joshua«, sagte Uthman. »Er hätte uns viel über die jüdischen Traditionen erzählen können.«
Henri nickte. »Das erste Buch der Könige in der Heiligen Schrift«, erklärte er, »berichtet nur, dass der König Salomo, als er den Tempel zu Jerusalem einweihte, die Lade des Bundes von den Priestern an ihren Platz in den Chorraum des Tempels, in das Allerheiligste, unter die Flügel der Cherubim-Engel stellen ließ. Wo nun dieses Allerheiligste war, das kann man nicht mehr sehen, so gründlich wurde der Tempel zerstört, so viel ist mittlerweile dort gebaut worden. Aber es wird sich schon auf dem heiligen Fels befunden haben. Aber nun weiter in meinem Bericht: Leider schritt Abu Hassan so eilig voraus, dass ich ihm kaum folgen konnte. Er wies noch einmal darauf hin, dass die Kreuzfahrer bei der Eroberung der Stadt ein grauenvolles Blutbad angerichtet hätten, bei dem Tausende von sarazenischen Frauen, Männern und Kindern den Tod gefunden hätten.«
Uthman hob die Hand zum Zeichen dafür, dass er eine Bemerkung einwerfen wolle. »Im Gegensatz hierzu hat Saladin die Heilige Stadt nahezu unblutig eingenommen.«
»Das stimmt!«, bestätigte Henri. »Aber zur Entschuldigung der Christen möchte ich bemerken, dass sie eure Moschee nicht zerstörten, sondern nur in eine Kirche umwandelten – so wie auch ihr Kirchen in Moscheen verwandelt. Vielleicht hatten sie nicht bemerkt, dass die mit Mosaik eingelegten Koransprüche sichtbar blieben.«
»Was legte man denn Abu Hassan zur Last, wenn die Koransprüche sogar in der christlichen Zeit sichtbar geblieben waren?«, fragte Uthman.
»Ich sprach von den Neidern, die es überall gibt. Solche Neider gab es auch bei Abu Hassan. ›Wer es darauf anlegte‹, erklärte er mir, ›könnte vielleicht zwischen den arabischen Schriftzügen und der Lobpreisung Allahs irgendetwas entdecken, was uns als Darstellung verboten ist. Bitte achte vor allem darauf, ob nicht irgendwo ein Bildnis der Maria auftaucht, die ihr Muttergottes nennt.‹«
»Bist du dieser Aufforderung nachgekommen?«, wollte Uthman wissen.
»Ich befand mich in einem argen Zwiespalt. Konnte ich daran mitwirken, dass die Jungfrau Maria mit Hammer und Meißel zerstört wurde? Andererseits: Konnte ich zulassen, dass mein Erretter als Verräter bestraft würde? Ich konnte nur hoffen, dass es keine verbotenen Bildnisse gab.
Noch aber gab es für mich einen kleinen Aufschub. Aus irgendwelchen Gründen, die ich nicht durchschaute, wollte Abu Hassan zunächst ein Gebet in der Al-Aksa-Moschee verrichten. Später, als ich ihn genauer kennen lernte, habe ich erkannt, dass er außerordentlich strenggläubig war. Ich erfuhr, dass er sogar an einer Pilgerfahrt nach Mekka teilgenommen hatte.«
»Das zeichnet unsere Sippe aus«, warf Uthman ein.
Henri ließ sich nicht unterbrechen. »Abu Hassan führte mich zur Gebetsnische, dem mihrab. Die Templer hatten, als sie Herren der Stadt waren, eine Mauer vor der Gebetsnische errichtet und sie zu einem Kornspeicher gemacht. Abu Hassan behauptete, sie hätten diese heilige Stätte sogar dazu benutzt, um dort ihre Notdurft zu verrichten. Aber das glaubte ich nicht.«
»Möglich wäre es schon«, meinte Uthman. Henri nahm diese Bemerkung jedoch nicht zur Kenntnis.
»Wer mit Gott, Maria und unserem Herrn Jesus sprechen will, kann dies überall, auch in einer sarazenischen Gebetsnische. Ich flehte zu der heiligen Dreifaltigkeit, dass sie mir Kraft schenken möge, die mir aufgebürdete schwere Aufgabe zu meistern, ohne meinen Glauben zu verraten.«
»Hat Gott dich erhört?«, fragte Uthman und überhörte gnädig das schlimme Wort von der Dreigeteiltheit des einen Gottes. »Allah stellt unseren Glauben oft auf eine harte Probe.«
»Nicht anders ist es bei uns Christen«, sagte Henri.
Vielleicht wären beide in eine längere theologische Diskussion über den Sinn und die Vergeblichkeit eines Gebetes versunken, hätte sie nicht in diesem Augenblick ein lauter Ruf von der Spitze des Mastes aus dem Gespräch gerissen: »Land in Sicht!«
Alle Matrosen stürmten zum Vordersteven, drängten und schubsten sich, um das lang ersehnte Land sehen zu können. Weit hinten am Horizont erschien ein schmaler Streifen. Bemerkenswert schnell kam auch der Kapitän aus seiner Unterkunft, scheuchte die Besatzung beiseite und wandte sich an Henri und Uthman. »Ehe wir landen, müssen wir zunächst feststellen, ob uns dort nicht ein Riff droht, an dem unsere Kogge zerschellen könnte. Das bedeutet: Bevor ich nicht mit dem Bleikegel Tiefen und Untiefen ausgelotet habe, ist an eine Landung nicht zu denken. Es ist nicht einmal sicher, ob es sich bei diesem Streifen um Land oder vielleicht nur um einen vorgelagerten Felsen handelt.« Er hob den Arm und übertönte die Freudenschreie seiner Mannschaft mit einem laut gebrüllten Befehclass="underline" »Anker werfen!«
Niemand wagte, laut zu protestieren. Der Kapitän hätte nicht gezögert, einen Befehlsverweigerer bei Wasser und Brot in den Block schließen zu lassen. Die Ankerkette rasselte hinab, und der Kapitän teilte mit, dass es für das Auswerfen des Lotes zu spät sei. Dafür sei am nächsten Morgen immer noch Zeit.
Auch Henri und Uthman hatten gegen den Beschluss nichts einzuwenden. Die Nacht gab ihnen Gelegenheit, den Kapitän zu beobachten. Noch waren sie vom Land weit entfernt. Es gab für Ernesto di Vidalcosta keine Möglichkeit, Fremde an Bord zu lassen. Warum hatte er Anker werfen lassen und eine Landung auf den nächsten Tag verschoben? »Das Riff halte ich für eine Ausrede«, äußerte Henri seine Meinung.
Uthman war ein Gedanke gekommen. »Vielleicht will er noch hier bleiben, weil er auf eine Nachricht wartet, die ihm in der kommenden Nacht durch eine Brieftaube übermittelt wird.«
»Das ist durchaus möglich«, bestätigte Henri. »Man wird ihm einen Treffpunkt nennen, wo er die Diebesware ungefährdet in Empfang nehmen kann.«
»Und der angeblich Schwerkranke? Was ist mit dem? Wozu hat er sich dieses Lügengespinst ausgedacht?« Für Uthman gab es bei diesem seltsamen Spiel noch viele ungelöste Fragen.
Henri nannte eine mögliche Lösung. »Um uns alle an Bord festzuhalten. Der angebliche Medicus ist gar kein Arzt, sondern einer seiner Kumpane. Er wird die Quarantäne über dieses Schiff verhängen, und wir liegen hier fest, solange es Ernesto di Vidalcosta beliebt.«
»Unter keinen Umständen werde ich mir irgendeine Medizin einflößen lassen«, sagte Uthman. Aber er wurde bei diesen Worten rot und schaute betreten zu Boden.
Henri war feinfühlig genug, um den Giftmordanschlag auf den Papst nicht zu erwähnen. Denn er selbst fühlte sich mitschuldig.
Sie hatten beschlossen, abwechselnd Wache zu halten. Ihre Ausdauer wurde belohnt. Kurz nach Mitternacht erschien der Kapitän auf Deck. Er trug einen dunklen Umhang, der ihn in der Schwärze der Nacht fast unsichtbar werden ließ. Aber da war noch eine zweite Gestalt.