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»Hör auf!«, rief Uthman. »Ein schneller Tod wäre gnädiger gewesen.«

»Gnade?«, erwiderte Henri. »Dieses Wort war für Mamelucken ein Fremdwort. Als mich der Emir mit einem mehr oder weniger gnädigen Wink entlassen hatte, trieb mich nur ein einziger Gedanke vorwärts. Ich musste meinen Bruder Abu Hassan retten. Ungeduldig beobachtete ich, wie einer der Stallknechte meine Stute sattelte. In jedem Augenblick fürchtete ich, dass der Emir einen Boten schicken würde, um mich zurückzuholen. Ich preschte ohne Rücksicht auf Pilgerströme durch die Straßen Jerusalems. Schimpfworte flogen mir nach, weil ich eine dichte Staubwolke hinterließ.«

»Wenn es um Leben und Tod geht, ist alles erlaubt«, bemerkte Uthman. »Hoffentlich kamst du noch zur rechten Zeit.«

»Leider nein! Vor den Mosaiken fand ich einige Arbeiter vor. Sie hatten ihre Werkzeuge niedergelegt und warteten auf einen Beamten des Emirs, der ihnen ihre Arbeit zuweisen würde. Von Abu Hassan war nichts zu sehen. Ich stieg sogar in die Höhle hinab, die sich unter dem Heiligen Felsen befand. Mein Ruf nach Abu Hassan hallte dumpf von den Mauern wider.«

»Vielleicht hatte man ihn schon in seinem Palast verhaftet«, fürchtete Uthman.

»Genau daran dachte ich auch. Ich benutzte wieder den Nebeneingang bei den Stallungen. Der lange Gang war unbewacht. Es war möglich, dass der Emir von Al-Qudz die Schwertträger als Eskorte abgezogen hatte, um Abu Hassan auf dem Weg zum Palast keine Gelegenheit zur Flucht zu geben. Erst vor den Privaträumen stieß ich auf eine Wache. Ich hätte ihn mit dem Schwert niedergestreckt, wenn er mir den Zugang verweigert hätte. Aber das tat er nicht. Zu meiner großen Überraschung verbeugte er sich, neigte seinen Mund zu meinen Ohren und flüsterte leise: ›Der Herr ist in Ungnade gefallen.‹

Meine Phantasie reichte nicht aus, um mir vorzustellen, was das bedeutete. Vielleicht wollte der Emir ihn nur verhören. Aber es war auch möglich, dass man Abu Hassan einer schrecklichen Folter unterworfen hatte, sodass er Verbrechen gestand, die er niemals begangen hatte.

Die Privaträume meines Bündnisbruders waren unversehrt. Alles fand ich so vor, wie ich es beim ersten Mal gesehen hatte. Nichts deutete auf eine eilige Flucht hin. Er hatte es offenbar nicht für möglich gehalten, dass der Emir diesen falschen Zeugen Glauben schenken würde.

Ich zögerte nicht lange«, berichtete Henri und atmete schwer, als ob er den schnellen Ritt von damals erneut hinter sich bringen müsse. »Zu meiner Überraschung verweigerte der Emir mir nicht die Bitte, bei ihm vorgelassen zu werden. Dieses Mal hätte ich mich ihm beinahe zu Füßen geworfen und um Gnade für seinen hohen Beamten gebeten. Aber ich unterließ dennoch diese Demutshaltung. Denn damals glaubte ich noch an Gerechtigkeit.«

Uthman belächelte den Mangel an Erfahrung. »Und heute? Meinst du immer noch, dass es in der Welt gerecht zugeht?«

»Gott ist gerecht, wenn sich auch die Menschen ungerecht verhalten. Wie können wir wissen, welches Schicksal uns Gott in seiner Allmacht zugedacht hat?«

»In der Sure Al-Maedah, der Sure vom Tisch«, erwiderte Uthman, »kannst du im 42. Zeichen lesen, wer von Gott angenommen wird. Da heißt es nämlich: Gott liebt die, die gerecht handeln. Der Emir aber handelte nicht gerecht. Bezeichnest du es etwa als Liebe Gottes, wenn er zulässt, dass Unschuldige ins Verlies geworfen werden?«

Henri wollte diese Diskussion um die Eigenschaften Gottes nicht fortsetzen. »Es sind hier nicht die Zeit und der Ort, um diese Frage zu klären. Aber auch der Emir berief sich auf den Koran. Denn er sagte zu mir: ›Wenn ihr aussagt, dann seid gerecht, auch wenn es um einen Verwandten geht. Das steht in der Sure Al-Anan, der Sure vom Vieh, im 152. Zeichen.‹ Er war nicht davon abzubringen, dass Abu Hassan ein Verwandter von mir war, und eigentlich war er das auch seit unserem brüderlichen Bündnis.

Ich spürte, dass der Emir für mich Zuneigung empfand. Er wollte nicht, dass ich vom Strudel der Ereignisse mitgerissen wurde. Darum riet er mir: ›Vergiss deinen Verwandten, den du nicht retten kannst. Zu deinem eigenen Wohl werde ich dir nicht den Ort nennen, wo ich Abu Hassan einkerkern ließ. Verlasse Jerusalem und komme nicht auf den Gedanken, den zu befreien, der mich schmählich betrogen hat!‹

Meinen Beteuerungen, Abu Hassan habe sich nicht von Christen bestechen lassen, schenkte er keinen Glauben, vielmehr hörte er mir gar nicht mehr zu. Er klatschte in die Hände. Der grobschlächtige Negersklave erschien, packte mich unsanft beim Kragen, schleppte mich zum Ausgang und beförderte mich mit so einem Tritt nach draußen in den Staub der Straße.«

»Das war das Ende dieser traurigen Geschichte«, seufzte Uthman.

»In keiner Weise«, erwiderte Henri. »Jetzt fängt sie eigentlich erst richtig an.«

10

Sie hatten verabredet, auch in dieser Nacht abwechselnd Wache zu halten. Henri hatte die ersten Stunden übernommen. Ihm fiel es nicht schwer, schlaflos zu bleiben. Aber auch der Kapitän hatte auf seinen Schlaf verzichtet. Unbewegt verharrte er im runden Bug der Kogge.

Auch Henri rührte sich nicht. Er beobachtete die leicht gewellte Wasseroberfläche des Mittelmeers. Im gelblich fahlen Mondlicht ähnelte sie der Wüste, die er damals mit der Kamelkarawane durchquert hatte. Aber im Gegensatz zu dem lauen Wind, der über das Schiffsdeck strich, war es in der nächtlichen Wüste bitterkalt gewesen. Auch die Geräusche waren andere: Ab und zu hatte eine Hyäne ihr unheimliches Geschrei ertönen lassen, oder eine Wüstenmaus, die neben dem Kopf vorbeihuschte, gab ein leises Pfeifen von sich. Das gleichmäßige Mahlen der kauenden Kamele hatte beruhigend gewirkt. Das Allerschönste in den Wüstennächten war jedoch der Sternenhimmel gewesen. Ihm war es so vorgekommen, als sei das Firmament wie von funkelnden Diamanten übersät.

Henri richtete seinen Blick zum Himmel. Ein Dunstschleier verhinderte einen ungetrübten Blick auf die Sterne. Der Mond versteckte sich immer wieder hinter schnell vorbeiziehenden Wolken, sodass der stete Wechsel von Dunkel und Helle eine dauernde Bewegung verursachte, die sich im Wasserspiegel zu wiederholen schien.

Aber plötzlich entstand in diesem Spiel von Licht und Schatten eine neue Bewegung. Wie von der Sehne eines Bogens abgeschossen näherte sich eine grauweiße Taube in großer Geschwindigkeit. Auch diesmal umkreiste sie flügelschlagend die Kogge. Der Kapitän verharrte fast bewegungslos. Nur seinen rechten Arm hatte er mit der Handfläche nach oben ausgestreckt, die Taube lockte er mit einigen Körnern herbei. Sie setzte sich auf das Handgelenk des Kapitäns und ließ sich willig greifen. Henri konnte nicht unterscheiden, ob das leise Geräusch ein Gurren der Taube oder ein zufriedenes Gemurmel des Kapitäns war. Er barg die Taube unter dem Baumwollhemd an seiner Brust und ging mit vorsichtigen Schritten auf seine Unterkunft zu.

Henri unterließ es, seinen Gefährten zur Wachablösung zu wecken. Aber Uthman hatte die Ankunft der Taube beobachtet. »Hat der Kapitän diesmal die erwartete Nachricht empfangen?«, fragte er.

»Ob die Botschaft seinen Wünschen entsprach, werden wir spätestens morgen früh seinem Auftreten entnehmen können«, erwiderte Henri. »Ernesto die Vidalcosta ist kein Mensch, der seine Launen verbergen kann.«

Die Nachricht musste seinen Wünschen entsprochen haben. Denn der Kapitän forderte seine Besatzung mit geradezu honigsüßen Worten auf, möglichst schnell die Anker zu lichten. Er versprach den Männern sogar eine zusätzliche Essensration, wenn es ihnen gelänge, die Segel ohne irgendwelche Komplikationen zu setzen. Kurze Zeit später segelte die Kogge mit geblähten Segeln unter dem Wind.

Henri entblätterte die wahrscheinlich gefälschte Seekarte des Kapitäns und verglich sie mit seinen eigenen Berechnungen der vergangenen Nacht. »Falls wir diesen Kurs beibehalten, werden wir weder in einem östlichen noch in einem westlichen Hafen Mallorcas landen können. Wir laufen geradewegs auf die Südspitze zu.«