»Brunella hat von einer vorgelagerten Insel mit dem Namen Cabrera gesprochen. Es gibt keinen Grund mehr, ihr zu misstrauen.«
Ohne Zweifel beherrschte der Kapitän die Kunst der Navigation. Zuweilen ließ er die Segelfläche verkleinern, um die allzu schnelle Fahrt des Schiffes zu bremsen. Dann wiederum gab er dem Wind eine größere Angriffsfläche, sodass sich die Fahrt der Kogge beschleunigte.
»Es macht den Eindruck, als wolle er zu einer ganz bestimmten Zeit in Cabrera anlegen«, äußerte Henri eine Mutmaßung. »Wenn er wirklich etwas im Schilde führt, wird er die Dunkelheit ausnutzen.« Henri hatte den Plan des Kapitäns durchschaut. Aber es dauerte noch, ehe der Kapitän Anker werfen ließ.
Inzwischen war der zunehmende Mond fast zu einer vollständigen Rundung angewachsen. Deutlich war in seinem hellen Licht der weiße Sand einer Bucht zu erkennen. Im Hintergrund erhob sich ein dunkler Wald mit dickstämmigen Baumriesen, deren Zweige sich bis zum Boden neigten.
»Mir kommt es so vor, als ob diese Insel unbewohnt wäre«, meinte Uthman. »Was plant Ernesto di Vidalcosta in dieser unwirtlichen Gegend? Er wird uns doch nicht umbringen und verscharren wollen!«
»Es sieht nicht danach aus«, beruhigte ihn Henri. Er wies zum Ufer. Aus dem Dickicht des Waldes waren zwei Männer getreten, die ein hölzernes Boot zu Wasser ließen. Über den Strand näherte sich ein dritter Mann, der beim Einsteigen Hilfe benötigte und sich vorsichtig auf der Ruderbank niederließ. Mit kräftigen Schlägen trieben die zwei zuerst gekommenen Männer das Boot in die Nähe der Kogge. Sie gaben sich keine Mühe, unbemerkt zu bleiben, sondern legten mit lautem Zuruf längsseits an. »He, der Medicus ist da!«
Ernesto di Vidalcosta war herbeigeeilt und half dem Ankömmling an Bord. Jetzt erst ließ sich erkennen, dass der Medicus einen Folianten und mehrere Bögen Papier bei sich trug.
»Nicht einmal diese Ausstattung verleiht ihm ein würdiges Aussehen«, stellte Uthman fest. »In arabischen Ländern, die für ihre Kenntnisse in der Medizin und Alchemie berühmt sind, sehen Gelehrte jedenfalls anders aus.«
»Ich halte für möglich«, stimmte ihm Henri zu, »dass es sich bei diesem Kerl mit dem zottigen Haar und den zupackenden Fäusten um einen Spießgesellen unseres Kapitäns handelt. Was aber mag in der ledernen Tasche sein, die der so genannte Medicus krampfhaft festhält? Nach Heilmitteln und Instrumenten zum Schröpfen sieht das nicht aus. Falls er Anstalten macht, uns festhalten zu lassen, und das Schröpfmesser ansetzt, werde ich mich mit meiner Damaszenerklinge zur Wehr setzen.«
Der Kapitän und der angebliche Medicus verschwanden in den Aufbauten. Kurze Zeit später ertönte ein markerschütterndes Gebrüll. Henri musste Uthman festhalten, damit dieser nicht davonstürzte, um den Grund des Geschreis zu erkunden. Bald darauf erschien Ernesto di Vidalcosta und winkte den beiden Männern zu, die im Ruderboot geblieben waren. Behände wie Affen kletterten sie an der Bordwand hoch. An Deck wurden sie von dem Medicus empfangen, der ihnen einen Befehl zuflüsterte. Sie nickten wortlos und folgten den beiden anderen. Gleich darauf tauchten alle vier wieder auf. Die beiden Männer aus dem Ruderboot schleppten einen Mann zwischen sich, dessen Kopf wie der Klöppel einer Glocke hin und her schwankte. Seine Füße baumelten eine Hand breit in der Luft, als ob sie nicht zu seinem Körper gehörten. Einer der beiden Männer schlang ein Seil um die Hüfte des Leblosen und ließ ihn von oben in das Boot gleiten, wo der andere ihn ächzend in Empfang nahm.
Der Medicus blätterte in seinem Folianten, schrieb etwas auf einen Papierbogen und drückte es dem Kapitän in die Hand. »Das müsste genügen. Die Kogge steht wegen Pestverdacht unter Quarantäne. Niemand darf das Schiff verlassen. Sage das eindringlich deinen allzu neugierigen Mitreisenden!«
Ernesto di Vidalcosta ging in seine Kajüte zurück und kehrte mit einem Leinensäckchen zurück. Er schüttete den Inhalt dem angeblichen Medicus in die geöffnete Hand. Das helle Mondlicht ließ keinen Zweifel aufkommen, dass es sich um Goldmünzen handelte, die der Medicus jetzt leise murmelnd nachzählte. Er schien zufrieden, denn er schüttelte dem Kapitän freundschaftlich die Hand und kletterte abwärts in das Boot, wo er dem leblosen Matrosen einen Tritt gab, um sich für seine Füße Platz zu schaffen. Eine Weile hörte man noch das Schlagen der Ruder, dann war der ganze Spuk vorüber.
Henri und Uthman blieben zunächst stumm zurück. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte schließlich Uthman. »Warum will der Kapitän uns alle an Bord festhalten?«
Henri überlegte mit gerunzelter Stirn. »Ohne Zweifel sind wir nicht am Ende dieser Vorstellung angelangt. Die Bezahlung gilt nur für ein falsches Zeugnis. Nie und nimmer ist hier an Bord die Pest ausgebrochen. Irgendein armer Kerl muss als Schwerkranker herhalten. Ich hoffe nur, dass man ihn nicht umbringt. Falls man ihn zurückbringt und an Bord kein weiterer angeblicher Verdachtsfall auftritt, darf diese Kogge wieder auslaufen.«
»Wenn ich dich recht verstehe, ist vorläufig keine illegale Ware an Bord. Das eigentliche Geschäft, bei dem er keine Zeugen gebrauchen kann, hat der Kapitän noch nicht abgewickelt. Das wird wohl erst in einer der nächsten Nächte geschehen.«
»So meine ich es«, bekräftigte Henri.
»Magst du den langen Tag damit verkürzen, mir weiter von deinen Abenteuern in Jerusalem zu erzählen? Ich hoffe sehr, dass du Abu Hassan aus den Fäusten seiner Feinde befreien konntest.«
»So bald noch nicht«, erwiderte Henri. »Aber ich lernte einen Rabbi kennen, der mir einen wichtigen Hinweis verschaffte. Ich war noch einmal zum Felsendom zurückgekehrt. Denn ich konnte mir kaum vorstellen, dass Abu Hassan dort kein Zeichen hinterlassen hätte, wo er mich als Zeuge seiner Unschuld hingeführt hatte. Eine der Höhlen südlich des Qubbet as Sakhra hatte ich ergebnislos durchsucht. Aber da gab es noch eine zweite, die man als Salomos Steinbruch bezeichnete. Wo es viele Steine gab, musste es doch auch zahlreiche Möglichkeiten geben, Zeichen und Botschaften einzuritzen. Wichtig erschien mir auch, dass in dieser Höhle Zusammenkünfte einer geheimen Bruderschaft stattgefunden haben sollten. Auch den Oberen unseres Templerordens war angeblich die Mitgliedschaft nicht verwehrt worden.«
»Durftest auch du an diesen Versammlungen teilnehmen?«, fragte Uthman voller Spannung.
»Ich war damals noch zu jung. Aber als Templer wusste ich, dass mathematische Prinzipien bei der Konstruktion von Gebäuden eine wichtige Rolle spielten.
Die Mitglieder dieser geheimen Bruderschaft pflegten sich in Anspielungen und Symbolen auszudrücken, die sie der Baukunst entnommen hatten. Abu Hassan galt als Meister der Steinmetze. Darum hoffte ich, in diesem versteckten Mauerwerk eine Nachricht zu finden.«
»Hast du mit Abu Hassan einmal über diese Kenntnisse gesprochen?«, fragte Uthman.
»Zumindest habe ich es erwähnt. Darum entschloss ich mich, nach mathematischen Zeichen zu suchen. Ich vertiefte mich so sehr in meine Tätigkeit, dass ich nicht mehr meine Umgebung beobachtete. Als jemand eine Hand auf meine Schulter legte, erschrak ich zutiefst. Die Feinde Abu Hassans haben mich beobachtet, dachte ich zunächst. Sie werden mich bei dem Emir Nadjm Ghazi anklagen, und ich werde dasselbe Schicksal erleiden wie mein Bündnisbruder.
Aber die Gestalt, deren Umrisse ich jetzt im Dunkel der Höhle an seinem Kaftan und dem Käppi erkannte, war ein jüdischer Schriftgelehrter. Er legte einen Finger auf die Lippen und begann zu flüstern. ›Diese Mauern haben Ohren, so dick sie auch scheinen. Darum erwähne nicht den Namen des Mannes, dessen Botschaft du dir erhoffst! Wir beide gehören einer Bruderschaft an, die Muslimen, Christen und Juden in gleicher Weise offen steht.‹