Unter anderen Umständen hätte ich mich gerne in diese interessanten Schriften vertieft. Aber damals ging es mir nur darum, eine Spur meines Bündnisbruders Abu Hassan zu finden. Ich wollte jedoch nicht die Teilnahme an einer Mahlzeit ablehnen, die in einem Gemeinschaftsraum eingenommen wurde. Dort hatten sich Männer, Frauen und Kinder versammelt.«
»Irgendeiner musste doch fremde Reiter mit einem Gefangenen gesehen haben«, warf Uthman ein. »Vielleicht die Arbeiter in dem Dattelpalmenhain! Oder eines der Kinder, die für gewöhnlich überall herumstrolchen.«
»So war es!«, bestätigte Henri. »Es gab dort eine ordensähnliche jüdische Gemeinschaft, die sich auf die alten Schriftrollen berief, die man in den Höhlen gefunden hatte. Diese Leute wollten irgendwie das alte heilige Reich Israel auferstehen lassen – an und für sich ein unsinniges Unternehmen, denn die Sarazenen hatten ja alles in ihrer Gewalt, und die Juden waren gut geduldet. Diese eigentümlichen Einsiedler aber lebten nach strengen, selbst auferlegten Regeln, die das Dasein dort mit dem knappen Trinkwasser unter der ungeheuren Sommerhitze noch erschwerten. Strenge Askese sollte die Seele von störenden Einflüssen frei machen. Darum erzogen sie ihre Kinder sehr streng, ähnlich wie wir Knaben bei den Templern erzogen wurden. Schläge, Essensund Schlafentzug waren keine Seltenheit. Sie wurden nicht nur im Umgang mit schweren Waffen gedrillt, sondern auch mit Aufgaben aus der Mathematik geplagt.«
»Das alles scheint mir sinnvoll zu sein«, gab Uthman sein Urteil über diese Art der Erziehung ab. »Hatten sie da denn überhaupt noch Zeit, in der Gegend herumzustrolchen?«
»Eigentlich nicht. Aber da gab es einen besonders wilden und widerspenstigen Burschen mit Namen Husam. Er sollte für irgendein Vergehen bestraft werden. Weil er die harten Schläge aus Erfahrung kannte, ergriff er die Flucht. Sein Ziel war Jerusalem, um dort unterzutauchen. Aber auf dem Nordwestufer stieß er auf eine Reitergruppe, die einen Gefangenen mit sich führte. Er lag gebunden quer über einem Pferderücken. Ich weiß nicht, ob diese Reiter fürchteten, dass man sie verraten würde. Sie zwangen jedenfalls den Jungen, sie zu begleiten, und lieferten ihn später in Qumran seinen Lehrern aus.«
»O je!«, rief Uthman. »Das war ein schlimmes Ende der Flucht.«
»Sich der Gemeinschaft zu entziehen und zu flüchten galt bei diesen Leuten als eines der schlimmsten Vergehen. Husam wurde unbarmherzig verprügelt, obwohl er immer wieder beteuerte, dass man ihn gegen seinen Willen verschleppt habe. Da er aber schon seit langem als ein durchtriebener Lügner galt, glaubte man ihm auch nicht, dass der Gefangene ein hoher Beamter des Emirs gewesen sei. Man habe ihn Abu Hassan genannt. Das habe er genau gehört. Für diese angebliche Lüge erhielt Husam dann noch einmal zehn Stockschläge. Vielleicht wollte man ihm auch nur austreiben, sich allzu sehr für die Außenwelt zu interessieren.
Als ich mein Interesse an dieser Geschichte deutlich zu erkennen gab, wurde der Junge herbeigeholt. Ich ließ mir genau erzählen, wie die Reiter ausgesehen und was sie gesprochen hätten. Danach war ich mir sicher, dass ich eine Spur von Abu Hassan gefunden hatte. Husam schien ein heller Kopf zu sein. Denn er hatte mitbekommen, dass man zu einem Palast am Roten Meer unterwegs sei, wo der Gefangene eingekerkert werden sollte. Für den Jungen war die Begegnung mit mir eine Ehrenrettung. Das sah ich an den Gesichtern seiner Lehrer. Die Schläge waren zwar nicht mehr rückgängig zu machen, aber ich entlohnte ihn mit ein paar Münzen.«
»Diesen Jungen hat man offenbar unterschätzt, nur weil er ungebärdig war. Es wäre ihm zu gönnen gewesen, dass er Jerusalem erreicht hätte. Auch ich war kein Braver und habe mich erst geändert, als du mich in deine Obhut genommen und nach Cordoba begleitet hast.«
Henri lächelte. »So ganz gezähmt habe ich dich allerdings noch immer nicht. Aber soll ich dir etwas verraten? Darüber bin ich froh!«
»Warum hast du nicht versucht, Husam mit dir zu nehmen?«, erkundigte sich Uthman. »Bei dir hätte er es besser gehabt.«
Henri nickte. »Ich bat tatsächlich darum, mir diesen Jungen anzuvertrauen. Sicher hätte er mir auf der Reise gute Dienste geleistet. Aber die Gemeinschaft der Einsiedler lehnte dieses Ansinnen ab. Seine Mutter habe das Kind, als es fünf Sommer alt gewesen sei, zu den Eremiten gegeben, um es Gott und den Heiligen darzubringen. So nämlich hieß es in der Adoptionsurkunde. Damit sei Husam ein Gottgeweihter, der sich auf dem langen und harten Weg zur Erleuchtung befinde. Ich merkte sogleich, dass jede weitere Bitte zwecklos war.«
»Konntest du den Jungen nicht zu einer neuerlichen Flucht überreden und heimlich mitnehmen?«, fragte Uthman.
»Dazu wäre ich niemals fähig gewesen«, erwiderte Henri. »Ich erinnerte mich sehr gut daran, wie es Deserteuren des Templerordens ergangen war. In die Gefahr, bis zum Lebensende eingekerkert zu werden, wollte ich den Jungen nicht bringen.«
»Wie immer hast du die richtige Entscheidung getroffen«, lobte Uthman. »Welche Spur hast du von nun an verfolgt?«
»Bevor ich aufbrach, schenkte mir einer der Mathematiker eine genau gezeichnete Landkarte. Er gab mir den Rat, zunächst nach Aqaba und von da nach Tabuk zu reiten. Entlang dieser Straßen gäbe es Oasen, wo ich Rast machen und mein Pferd tränken könne. Den Weg könne ich nicht verfehlen, denn er werde seit vielen Jahren von sarazenischen Pilgern benutzt, deren Ziel Medina und von da aus Mekka sei. In Aqaba wohne ein gelehrter Mann mit Namen Ortokides, der sich mit der Entzifferung alter Schriftrollen beschäftige. ›Ich gebe dir als Erkennungszeichen ein Papyrusdokument mit‹, sagte der Zahlenkundige zu mir. ›Mit dieser Rolle hat es allerdings eine besondere Bewandtnis. Wir haben sie bisher noch nicht entziffern können, aber wir nehmen an, dass sie über Salomos wertvolle Schätze Auskunft gibt und vielleicht sogar über die Bundeslade. Warum sonst hätte der Emir von Al-Qudz immer wieder danach gefragt?‹
Meine Gefühle schwankten zwischen Spannung und Befürchtung. ›Sprecht Ihr von Nadjm Ghazi?‹
›Ja, von diesem Emir. Habt Ihr in Al-Qudz seine Bekanntschaft gemacht? Wenn ja, im guten oder im schlechten Sinne?‹
›Im schlechten‹, bekannte ich, und danach entschloss ich mich, dem Mathematiker meine Erlebnisse mit Abu Hassan, dessen Gefangennahme und die unnachgiebige Haltung des Emirs anzuvertrauen.
Der Mathematiker hatte ruhig zugehört. ›Wenn das so ist‹, sagte er, als ich meine Rede beendet hatte, ›gebe ich Euch den Rat, die Küste am Roten Meer nach Burgen abzusuchen, die im Eigentum hoher Beamten stehen. Dort könnte man Euren Freund eingekerkert haben. Es geht das Gerücht, dass einige dieser Männer mit dem französischen König in Verbindung stehen und den Sturz des Emirs geplant haben. Aber auch der Emir besitzt am Roten Meer einen stattlichen Palast. Solltet Ihr ihn dort antreffen, wird Euch das Papyrusdokument mit Sicherheit von Nutzen sein.‹