Wo nur sollte er mit seinem Bericht anfangen? Uthman wurde schon ungeduldig. In einer plötzlichen Eingebung beschloss Henri, jene Abenteuer zu erzählen, die dazu geführt hatten, dass er in Lebensgefahr geriet und schließlich aus einem streng bewachten Palast fliehen musste.
»Mach es dir bequem, auch wenn die Planken hart sind«, forderte er Uthman auf. »Solange diese Flaute anhält, werden Wellen und Sturm meine Erzählung nicht stören. Auch das Frachtschiff wird uns nicht näher kommen können. Es sieht ganz so aus, als ob wir noch lange unterwegs sein werden.«
Henri lehnte sich gegen die hölzernen Deckaufbauten, kreuzte die Beine, ließ seine Arme entspannt zu beiden Seiten seines Körpers herabhängen und begann seine Geschichte.
»Ich war damals Knappe und noch verhältnismäßig jung. Am 18. Mai 1291 fiel Akkon in die Hand unserer Feinde. Nur das große Haus der Ordensritter hielt zunächst noch stand. Aber zehn Tage später brach die landeinwärts gekehrte Seite des Ordenshauses zusammen. Das war der Tag, an dem ich deinem Vater das Leben retten konnte.«
»Alhamdu lillah! Allah sei Dank!«, warf Uthman ein.
»Die übrigen Städte im Outremer, unseren Besitztümern im Heiligen Land, erlitten bald dasselbe Schicksal. Ende Juli hatte der Sultan Haifa besetzt, ohne auf Widerstand zu stoßen. Tortosa wurde am dritten August, Athlit kurz darauf verlassen. Dass wir unsere Pilgerburg Athlit südlich des Karmel aufgaben, ist mir eigentlich unverständlich. Aus zahlreichen Quellen sprudelte innerhalb der Burg frisches Wasser hervor. Zwischen zwei gewaltigen Türmen schützte eine Mauer mit Schießscharten und Zinnen unsere Krieger. Sie konnten sich hinter dieser Mauer bequem zu Pferde und bewaffnet bewegen. Süßwasserbrunnen wurden durch eine Mauer geschützt, die über das Vorgebirge von einem Ufer zum anderen führte. Aber nachdem wir auch Athlit aufgegeben hatten, segelten die überlebenden Tempelritter nach Zypern, weil sie angeblich die Aussichtslosigkeit ihres Verbleibens erkannt hatten.«
Uthman hatte sich Gedanken gemacht, warum die Templer alle diese Burgen aufgegeben hatten. »Hältst du es nicht für möglich, dass die Templer sich damals aus einer Offensivstrategie auf die Verteidigung zurückgezogen hatten? Warum hätten sie sonst ihre Burgen so stark befestigen sollen?«
Henri ließ diese Frage unbeantwortet und fuhr fort. »Auch ich war auf einem der Schiffe nach Zypern gelangt. Eigentlich war es meine Absicht, von dort aus nach Frankreich zurückzukehren. Aber ich fühlte mich in der Gemeinschaft der Ordensbrüder wohl. Darum beschloss ich, eine Weile auf Zypern zu bleiben.
Dann aber erschreckten uns böse Gerüchte: König Philipp wolle den Papst dazu bringen, den Templerorden aufzulösen und zu verbieten. Ich konnte mir das kaum vorstellen, aber ich dachte, nun sollte ich wohl so schnell wie möglich nach Frankreich zurückkehren.
Alles kam ganz anders, als ich mir das vorgenommen hatte. Als ich mich nämlich am Hafen herumtrieb, um eine Schiffspassage nach Marseille ausfindig zu machen, lernte ich einen jungen Tempelritter kennen, der bei Tortosa gekämpft hatte und der nach mir auf Zypern angekommen war. Dieser Ordensgefährte war bei weitem nicht so ernsthaft veranlagt wie ich zu dieser Zeit.«
»Heute doch auch noch«, meinte Uthman.
Henri ließ sich nur ungern unterbrechen. »Dieser Bursche hielt mich wahrscheinlich für viel zu folgsam und ängstlich. Als ich zögerte, auf seinen Vorschlag einzugehen, in das Heilige Land zurückzukehren, um Jerusalem zu sehen, ließ er mich seine Verachtung spüren. ›Nichts hast du von dieser Welt gesehen, wenn du nicht in Al-Qudz, der Heiligen, gewesen bist. Weißt du denn nicht, dass, wenn man die Weltscheibe von oben betrachtet, Hierosalym der Mittelpunkt der Welt ist?‹«
»Hatte er da nicht Recht?«, fragte Uthman, ohne eine Antwort zu erwarten.
Henri nickte. »Heute weiß ich das. Aber damals machte ich mich nur auf diese abenteuerliche Reise, um nicht als Feigling dazustehen. Der deutsche Kaiser, Friedrich II. von Hohenstaufen, hatte mit dem aijubidischen Sultan al-Kamil einen Vertrag geschlossen, der für euch Araber sehr nachteilig war. Denn dieser Sultan war tatsächlich um Entspannung bemüht. Aber fünfzehn Jahre später, das war, wenn ich mich nicht irre, im Jahre 1244, gaben die Aijubiden Jerusalem an die Anhänger eures Propheten Muhammad zurück. Die letzten Kreuzfahrer waren verjagt worden. Wir würden also in eine Stadt kommen, die nach den Gesetzen des Korans und der Scharia regiert wurde.
Dieser Ordensbruder, der seinen Namen mit Louis angegeben hatte, lungerte tagtäglich am Hafen herum, bis er ein Schiff gefunden hatte, das Flüchtlinge aus Outremer nach Zypern gebracht hatte und nun leer in den Orient zurückfuhr. Der Kapitän hatte nichts dagegen, uns bis nach Haifa mitzunehmen. Jedenfalls stellte er keine Fragen.«
Am Abend hatte sich, wie am Vortag, wieder ein stärkerer Wind erhoben. Henri beobachtete, wie sich das Frachtschiff langsam näherte. Einige Seeleute kletterten am Mast empor und machten sich am Reff zu schaffen.
»Hoffentlich gibt es in dieser Nacht keinen Sturm«, sagte Uthman und deutete auf dichte schwarze Wolken, die sich am Horizont zusammengeballt hatten. »Auch im Mittelmeer kann es Wellen geben, die leicht eine Höhe von vierzig Fuß erreichen.«
Seine Befürchtung erwies sich als unbegründet, und am nächsten Tag konnte Henri mit seiner Erzählung fortfahren, ohne die Stimme erheben zu müssen, um das Plätschern der Wellen an der Bordwand zu übertönen.
»Auch damals war uns das Mittelmeer gut gesonnen. Von Zypern aus gelangten wir schneller als erwartet nach Haifa. Aber schon während der Überfahrt kamen mir erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit meines Ordensbruders. Ich erwog sogar die Möglichkeit, dass Louis sich nur als Tempelritter ausgegeben hatte. Wenn ich auf unsere Ordensregeln zu sprechen kam, lenkte er das Gespräch geschickt auf ein anderes Thema. Warum legte er so überaus großen Wert darauf, nach Jerusalem zu fahren? Und was sollte ich dabei für eine Rolle spielen? Ich war nahe daran, sein Bündel zu durchsuchen. Aber ich schämte mich, einen unbegründeten Verdacht zu hegen.
Inzwischen hatte ich aber meine Aufmerksamkeit geschärft. Sehr bald war mir aufgefallen, dass sich Louis auffällig oft mit einem der Mitreisenden in einer fremden Sprache unterhalten hatte, die ich nicht beherrschte. Sie gaben sich nicht einmal Mühe, ihre lebhafte Unterhaltung abzubrechen, wenn ich zu ihnen trat. Ich fragte Louis, ob er auf dem Schiff einen Freund getroffen hätte. Er machte jedoch ein auffällig erstauntes Gesicht und behauptete, dass dieser Mann nur eine Zufallsbekanntschaft sei…«
Henri unterbrach seine Erzählung plötzlich. Uthman hatte es auch gesehen und nickte ihm zu: »Das Schiff nähert sich immer schneller!«
Das Segel stand nun, keine fünf Seemeilen entfernt, hinter ihnen. Jetzt war auch der Kapitän an die Reling getreten, verwirrt starrte er auf den Lastsegler. Unruhig rieb er seine derben Seefahrerhände aneinander. Er wippte nervös vor und zurück, sah dann erneut auf das Schiff.
»Erzähle doch weiter«, sagte Uthman leise, »ich werde das Segel schon im Auge behalten.«
»Als wir von Bord gingen«, fuhr Henri fort, aber er sah dabei nicht zu Uthman, sondern auf das Schiff, »beobachtete ich die wenigen Mitreisenden in unserer Nähe. Der angebliche Zufallsbekannte hatte sich von Louis mit einem aufgeregten Wortschwall verabschiedet, nickte mir dann freundlich zu und wünschte mir eine gute Reise. Irrte ich mich, oder hatte er mich mit einem Gesichtsausdruck angegrinst, den ich in Akkon bei einem Mamelucken gesehen hatte, der einen Überfall auf mich plante? Ein Mamelucke? Er konnte, nach seinem Äußeren zu schließen, zu diesem Volksstamm gehören. Sie waren ja unter den erbittertsten Feinden der Tempelritter.«