›Was hat diese Botschaft jetzt für Folgen?‹, fragte ich gespannt.
Ortokides sah mir starr in die Augen. ›Vergiss, was ich dir anvertraute. Denn wenn der Emir von Al-Qudz vom Inhalt dieser Papyrusrolle erfährt, wird er den ganzen Tempelbezirk niederreißen lassen, um die Schätze zu finden. Wir erwarten morgen in Aqaba seine Ankunft. Er ist auf der Suche nach einem Hofbeamten, der in Ungnade gefallen ist und in einer Burg an der Küste des Roten Meeres eingekerkert werden soll.‹
Die Mitteilung von der Ankunft des Emirs jagte mir einen gewaltigen Schrecken ein. Was hatte das zu bedeuten? Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder hatte er eingesehen, dass die Zeugen seinen Hofbeamten Abu Hassan zu Unrecht beschuldigten. Oder er hielt Abu Hassan für schuldig und wollte an seiner Hinrichtung teilnehmen. Ich wollte schon meine Erlebnisse im Palast des Emirs ausplaudern, als Ortokides sich mir zuwandte. ›Dieses Dokument hat man Euch geschenkt. Es ist Euer Eigentum. Ihr könnt damit machen, was Euch beliebt. Ich kenne jetzt den Inhalt und werde ihn verschweigen. Nur in der allerhöchsten Not, falls mein Leben bedroht sein sollte, werde ich meine Kenntnisse zur Rettung meines Lebens einsetzen.‹
›Ist denn Euer Leben bedroht?‹, fragte ich erschrocken. Mit seinen Fähigkeiten war er wahrscheinlich ernsten Bedrohungen und Erpressungen ausgesetzt. Die Antwort, die ich nun erhielt, empfand ich wie einen Schlag in mein Gesicht. Ich war zutiefst bestürzt. Denn Ortokides sah sich nach allen Seiten um und flüsterte mir zu: ›Ich bin Ismailit, ein Anhänger der Partei Alis, des einzig rechtmäßigen Kalifen, und lebe unter den Mamelucken in dauernder Gefahr.‹
Nun blieb mir nichts anderes übrig, als von den falschen Franziskanern in Akkon zu berichten. Ortokides erblasste und nahm meinen Bericht starr entgegen. Am Ende meiner Rede umarmte er mich. ›Ich danke dir für deine Botschaft, die mir das Leben retten kann. Wir Ismailiten sind es seit jeher gewohnt, im Geheimen zu leben. Als wir von den Kalifen in Bagdad unterdrückt wurden, verbargen wir uns lange Zeit bei Basra im Sumpfgebiet. Wir wollten als Streiter Gottes einen Gottesstaat gründen und verständigten uns durch geheime Zeichen. Im Laufe der Zeit machten wir uns durch unser Wissen und auch durch die Kenntnis geheimer Lehren unentbehrlich. So fand ich Aufnähme in die Bruderschaft, in deren Dienst ich mich völlig gestellt habe.‹«
»War diese Verbindung auf deiner Suche nach Abu Hassan denn nicht ein großer Nachteil?«, erkundigte sich Uthman skeptisch.
»Man musste sich hüten, allzu sehr in die Lehren dieser Geheimgesellschaften einzudringen. Ist nicht dein Vater auch ein Anhänger Alis? Ich war jedenfalls entschlossen, mich bedingungslos auf die Seite dieses Ismailiten zu stellen. Das musste Ortokides gespürt haben. Er händigte mir mein Papyrusdokument wieder aus und riet mir, nach Tabuk zu reiten, um in der dortigen Burg nach Abu Hassan zu suchen. Wenn er die Pläne des Emirs erfahren könne, würde er mir einen Boten nachschicken. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, dass ich auf seiner Dachterrasse niederkniete, um ein Gebet zu sprechen, in dem ich Gott um Schutz und Hilfe anflehte. Ortokides segnete mich, was ich geschehen ließ, und wir schieden als gute Freunde.«
»Waren dies alles nicht gar zu unsichere Pläne?«, meinte Uthman. »Man gab dir allenthalben gute Ratschläge, mehr aber auch nicht. Was du gebraucht hättest, wäre eine tatkräftige Hilfe gewesen.«
»Da hast du Recht. Mir fehlte eben ein Uthman ibn Umar.«
Die Sonne war in den Wellen untergetaucht, und die Dämmerung war übergangslos hereingebrochen. Henri musste an die Sonnenuntergänge am Roten Meer denken. Die Felsen der Küstengebirge schimmerten dann in einem rosaroten Licht. Aber das Wasser blieb tiefblau. Nur, wo die Blaualgen sich angesiedelt hatten, färbten sich die Oberflächenwasser rot. In der Erinnerung erschienen ihm diese Sonnenuntergänge am Roten Meer wunderschön. Aber damals hatte er sich gejagt gefühlt, als säßen ihm Furien im Nacken.
»Ich hätte dem Rat von Ortokides folgen sollen«, fuhr Henri fort, »und ohne Verzögerung nach Tabuk reiten. Aber ich wollte unbedingt die alte Kreuzritterburg sehen und hoffte, dass ich dort ein Gefühl von Geborgenheit empfinden würde. Am Hafen von Aqaba fand ich einen jungen Fischer, der bereit war, mich zur Insel überzusetzen. Mehrere andere Männer hatten sich geweigert, mich zu der Ruine zu bringen. Sie hatten mich sogar gewarnt, diese alte Burg aufzusuchen, in der nur noch die Dschinnen hausten. Schon damals glaubte ich nicht an Geister, und ich habe diese einfältigen Fischer ausgelacht.
Aber wie Recht hatten sie mit ihrer Warnung! Dichtes Dornengestrüpp versperrte den Eingang. Aber ich achtete nicht darauf, dass meine Kleidung zerriss. Ein dunkler Gang tat sich vor mir auf. Ich stolperte ihn im Finsteren entlang, überwand einige zerbrochene Stufen, die nach unten führten, und stand in einer Höhle, die einstmals wohl den Kreuzrittern als Speisesaal gedient hatte. Vergebens versuchte ich, mir das Bild vorzustellen, wie damals meine ehemaligen Ordensbrüder hier gelebt hatten. Ich schloss die Augen, um nicht die Spinnen, toten Ratten und Kakerlaken sehen zu müssen.
Aber dann geschah etwas, das mir kalte Schauer über den Rücken jagte. Eine knöcherne Hand legte sich auf meine Schulter und krallte sich mit spitzen Fingern in mein Fleisch. Ich fuhr herum und erblickte eine geisterhafte Erscheinung. In dem bleichen, hohlwangigen Gesicht zeugten nur die glühenden Augen davon, dass ich einen Menschen vor mir hatte. Die fleischlosen Glieder bestanden nur noch aus Knochen, die bei jeder Bewegung zu klappern schienen. Aber das Grauenerregendste war die Stimme, die nichts Menschliches mehr an sich hatte. Diese schreckliche Gestalt neigte ihre blutleeren Lippen zu meinem Ohr und flüsterte kaum verständlich: Ecce te hominem esse.
Wer war diese geisterhafte Erscheinung? Warum lebte jenes grauenvolle Abbild eines Menschen in den Ruinen? Wovon ernährte sich der Mann? Von Ratten, die er erschlug? Was trank er, um sich am Leben zu erhalten? Das faulige Wasser aus den alten Zisternen? Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, schüttelte seine Hand ab, warf das Brot, das mir Ortokides für die Reise mitgegeben hatte, auf den Boden und stürzte davon.
Wie glücklich war ich, dass der junge Fischer auf mich gewartet hatte! Ich sprang in das Boot und beruhigte mich erst, als wir den Hafen von Aqaba erreicht hatten. Viel später erst kam mir der Gedanke, dass dieser Mensch vielleicht nichts anderes wollte als das, was ich anstrebte, nämlich dort eine Heimat zu finden, wo er einst verwurzelt war. Von da ab war mir klar, dass diese Heimat nur in den Regeln und Gesetzen des Templerordens sowie in den Gelübden, die ich geleistet hatte, zu finden war, nicht etwa in einer ehemaligen Kreuzritterburg oder an einem anderen Ort.«
Die letzten Worte hatte Henri nur noch gemurmelt. Uthman rüttelte ihn aus seinen Gedanken und holte ihn in die Gegenwart zurück. »Du bist so bleich geworden und schaust abwesend vor dich hin. Fühlst du dich nicht wohl?«
Nicht einmal meinem Freund kann ich deutlich machen, was damals in mir vorging, dachte Henri. Aber er versuchte wenigstens eine Erklärung. »Kennst du das Gefühl, dass du dich selbst verlierst, deine Mitte nicht findest?«, fragte er.
Uthman sah ihn erstaunt an. »Wie kommst du nur darauf? Die Mitte befindet sich für mich da, wo ich augenblicklich lebe.«
»Vielleicht hast du Recht«, erwiderte Henri zögernd. Damals, auf dem Weg vom Roten Meer in das Vorgebirge, das sich unweit der Küste entlangzog, hatte er Mühe, seinen Zustand der Orientierungslosigkeit zu überwinden. Erst als er das Ufer und die kleinen Fischerdörfer verlassen und die alte Pilgerstraße nach Medina erreicht hatte, fand er zu klaren Gedanken zurück. Nicht vor Furien und Dschinnen lief er davon, sondern vor sich selbst.