»Ich werde die erste Wache übernehmen«, bestimmte Uthman, ohne einen Widerspruch zuzulassen. »Du brauchst Schlaf. Das erkenne ich doch deutlich.«
»Ja, Meister!«, erwiderte Henri lächelnd und streckte sich auf einigen Taurollen aus.
Henri erwachte gegen vier Uhr früh von einer ungewohnten Stille. Das Knattern der Segel war verstummt. Faltig und bewegungslos hingen sie am Mast. An der Bordwand floss das Wasser wie ein Rinnsal vorüber, und die Kogge lag so ruhig im Meer, als ob sie an Land gezogen sei. Am Himmel war kein Wölkchen zu sehen, und die Sterne funkelten bewegungslos herab, als ob sie am Firmament festgebunden wären. Nicht das leiseste Lüftchen strich über das Deck.
»Sogar die Winde sind mit diesem Satansbraten Ernesto di Vidalcosta im Bunde«, fluchte Uthman. »Die Reise verzögert sich wieder einmal, ohne dass der Anker gesetzt werden müsste.«
Henri war anderer Meinung. »Nicht ihm bringt diese Verzögerung Vorteile, sondern uns. Denn die Piraten werden vielleicht nicht auf unser Schiff warten, wenn wir allzu lange ausbleiben. Ich könnte mir vorstellen, dass selbst in einer versteckten Bucht das Ankern für die Piraten gefährlich ist. Sicher kennt man inzwischen die Schaluppe des gefürchteten Seeräubers.«
»Also sind wir zur Tatenlosigkeit verurteilt. Das mag ich gar nicht. Da mein Glaube keinen Wettergott kennt – mögen die Götzendiener in der Hölle braten! – und das Christentum wohl auch nicht, erzähle mir weiter von deinem abenteuerlichen Ritt!«
Henri hatte Schwierigkeiten, den Faden dort wieder aufzunehmen, wo er ihn abgeschnitten hatte. Denn er scheute sich davor, dem Freund von seinen Ängsten und Zweifeln zu berichten.
Uthman war feinfühlig genug, um sein Zögern zu bemerken. »Du wolltest nach Tabuk. Führte dich der Weg am Ufer des Roten Meeres entlang?«
Henri nahm die Hilfe an. »Eine Weile blieb ich noch an der Küste. In den Dörfern rief um diese Stunde der Muezzin von den Minaretten der Moscheen. As-salat hair min an-naum – Das Gebet ist verdienstvoller als der Schlaf. Diesem Ruf konnte ich nur zustimmen. Nachdem ich mein Pferd noch einmal getränkt hatte, schlug ich den Weg zum Vorgebirge Hedjas ein. Ich wollte die alte Pilgerstraße erreichen, die letztendlich bis nach Medina reichte. Aber der Ritt gestaltete sich schwieriger, als ich erwartet hatte. Denn zwischen den rosafarbenen Felsen lagerten Sanddünen. Als mir eine unerwartet tiefe Schlucht den Weg versperrte, erwog ich sogar, zur Küstenstraße zurückzukehren. Aber Ortokides hatte davon gesprochen, dass es möglich sei, auf diesem Wege die alte Handelsstraße zu erreichen, die Babylonien, Mekka, Ägypten und Damaskus sei eh und je verbunden habe. Und er sollte tatsächlich Recht behalten. Denn als ich die Schlucht weiträumig umrundet hatte, sah ich einige Lehmhütten vor mir liegen. Wo Menschen leben, müssen auch Straßen und Brunnen sein, dachte ich mir. Ich trabte auf einem ausgetretenen Pfad auf die Behausungen zu.«
»Ich an deiner Stelle hätte mich erst einmal vorsichtig angeschlichen.«
»Ringsum war nur Wüste. Wo hätte ich Deckung finden können? Vor den Eingängen lagen auf breiten Brettern Tonkrüge, die recht hübsch bemalt waren. Vielleicht verdienten sich die Bewohner der armseligen Hütten etwas Geld, wenn sie ihre Keramikvasen den durchziehenden Händlern anboten. Wer Handel treibt, wird wohl kein Räuber sein. So dachte ich wenigstens.«
»Gerade Händler sind die größten Gauner«, berichtigte ihn Uthman.
»Man hatte den Hufschlag meines Pferdes gehört. Eine verschleierte Frau erschien im Eingang, und etwa sieben Kinder folgten ihr, die mich anstarrten. Ich bedauerte, dass ich keine Süßigkeiten bei mir hatte, für die doch die Araber berühmt sind. Mit einer baqlawa, diesem Gebäck mit Honig und Mandeln, hätte ich die vielen hungrigen Mäuler zufrieden stellen können. Leider sprach die Frau einen Dialekt, den ich nicht verstehen konnte. Darum zeigte ich mit der Hand auf mein Pferd und dann auf die Zisterne. Das hatte sie verstanden. Sie ging voraus und ließ einen Eimer an der Kette in die Tiefe. Natürlich half ich ihr beim Heraufziehen.
Aber in diesem Augenblick, als unsere Hände unabsichtlich übereinander lagen, tauchte ein Mann auf. Er hatte meine Bewegung missverstanden. Vorbeiziehende Händler hatten wohl schon des Öfteren versucht, sich der Frau unsittlich zu nähern. Der Mann trug, da er von der Feldarbeit kam, eine Hacke bei sich, die er jetzt drohend gegen mich erhob. Was sollte ich tun? Er verstand nicht, was ich ihm sagte, dass ich nämlich keinerlei ehrenrührige Absichten gehabt hätte. Die Frau kreischte, die Kinder heulten. Als mich der erste Schlag traf, sprang ich in den Sattel und galoppierte davon, so schnell es der felsige Untergrund zuließ.«
»Armer Henri!«, sagte Uthman. Der Spott war deutlich seiner Stimme anzuhören. »Ausgerechnet dir hat man unsittliche Motive unterstellt!«
Henri enthielt sich jeder Stellungnahme. »Mein Glück war, dass ich wirklich die alte Handels- und Pilgerstraße gefunden hatte. Ich ritt bis zur Dunkelheit und traf auf eine Oase, von der Ortokides gesprochen hatte. Sie lag geschützt hinter einem kleinen Felsen, der verhinderte, dass die karge Erde vom Wind weggetragen werden konnte. Ein dichter Dattelpalmenhain umgürtete die Ansiedlung. In der Mitte des Ortes hatten die Bewohner eine Mauer errichtet. Dahinter lag ein Hof, der sich mit großem Wohlwollen als Karawanserei bezeichnen ließ. Ich war froh, mein Pferd endlich tränken zu können.
Ich war nicht der einzige Gast. Eine Gruppe von fünf Männern hatte im Hof ein Feuer entzündet und war soeben dabei, einige Wildkaninchen an einem Spieß zu braten. Diese Männer kannten sich in der Gebirgsgegend aus. Das merkte man sogleich. Mit Gesten und einigen Worten der aramäischen Sprache, die ich einigermaßen beherrsche, konnten wir uns verständigen. Sie luden mich ein, an ihrer Mahlzeit teilzunehmen, und erzählten mir von Erfolgen und Misserfolgen ihrer Handelsreisen.«
»Wer gar zu freundlich ist, erregt bei mir stets Verdacht«, argwöhnte Uthman. »Vielleicht wollten sie dich ausrauben.«
Henri schüttelte den Kopf. »Vorsicht ist gegenüber Fremden immer angebracht. Aber man sollte nicht jeden Menschen grundlos verdächtigen, der einem freundlich begegnet.«
»Da stimme ich dir zu. Aber dir hatte man in Jerusalem doch gerade erst eine bittere Lektion erteilt.«
»Diese Lektion, die ich mit vielen Schlägen bezahlt hatte, führte dazu, dass ich sehr unruhig schlief. Ich fuhr mehrmals aus meinem Schlaf hoch und überzeugte mich, dass die anderen Besucher der Oase fest schliefen. Niemand führte etwas Böses im Schilde.«
»Da hast du Glück gehabt«, meinte Uthman.
»Ob man diese Begegnung als Glück bezeichnen kann, weiß ich nicht. Für mich brachte sie aber eine bedeutende Wende. Ich legte das Misstrauen ab, das seit der Entführung in Haifa ständig an mir genagt hatte. So fasste ich einen schwerwiegenden Entschluss: Ich wollte der Begegnung mit Emir Nadjm Ghazi nicht mehr ausweichen. Noch einmal wollte ich versuchen, ihn von der Unschuld meines Bündnisbruders zu überzeugen. Wenn mir das nicht gelänge, wenn auch ich als sein Gefangener in irgendeinem Verlies mein Leben elend beschließen sollte, war mir das bestimmt, vielleicht sogar eine Strafe für Sünden, die ich begangen hatte.«
»Du und Sünden!«, rief Uthman.
Henri ging auf diesen Einwurf nicht ein. »Ich fragte die fünf weit gereisten Handelsleute, ob sie schon einmal davon gehört hätten, dass es in der Nähe des Roten Meeres einen Palast des Emirs von Al-Qudz gäbe. Sie wussten den Ort und erklärten mir den Weg nach Al-Mabeyat, einem strategischen Punkt an der Weihrauchstraße, den der Emir wohl mit Bedacht zum Bau eines Palastes gewählt hatte. Mit Mühe lehnte ich die Geschenke ab, die sie mir für den Emir mitgeben wollten, weil sie Nadjm Ghazi für einen meiner Freunde hielten.«
»Du ließest sie natürlich in diesem Glauben«, bemerkte Uthman.