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Der Steuermann zeigte seine Kunst, indem er die zerklüftete Steilküste mied und die Kogge langsam in eine Bucht manövrierte, die weit in die Insel hineinreichte. Steineichen und wilde Olivenbäume umgaben eine ufernahe Wiese, auf der feuerrote Mohnblumen, weiße Margeriten und wilde Hyazinthen eine bunte Farbpalette bildeten. Über allem schwebte der Duft von Rosmarin und Kamille. Menorca bot sich den Ankömmlingen als ein wahres Paradies dar. Die Matrosen warteten darauf, dass der Kapitän den Befehl zum Ankern gab. Ein vielstimmiges »Hurra!« begleitete das Rasseln der Kette, als der Anker in dem tiefblauen Wasser versank.

Ernesto di Vidalcosta zeigte sich von seiner besten Seite. »Ihr dürft alle von Bord gehen!«, erlaubte er seiner Mannschaft. »Es sieht nicht so aus, als ob uns hier Piraten auflauern würden. Aber Vorsicht ist immer angebracht. Darum soll die Wachmannschaft von den oberen Aufbauten aus das Meer beobachten. Auch ich werde an Bord bleiben.«

»Das habe ich nicht anders erwartet«, flüsterte Uthman. »Er wird seine wertvollen Kisten nicht aus den Augen lassen.« Die Seeleute wateten ausgelassen durch das niedrige Wasser dem Land zu und waren bald hinter Bäumen verschwunden. Uthman grinste. »Sie werden das nächstgelegene Dorf aufsuchen, um dort Mädchen zu belästigen.«

Henri sah sich um. »Vielleicht haben die Piraten nicht länger auf uns warten können. Denn Menorca gehört zum Königreich Mallorca. Ich nehme an, dass die Küsten durch königliche Soldaten geschützt werden, die den Seeräubern gefährlich werden könnten.«

»Wie sollen wir uns jetzt verhalten? Wäre es nicht am besten, auch an Land zu gehen?«

Henri schwieg. Er hob den Kopf, als ob er den würzigen Blumenduft einatmen wolle. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Es ist so, als ob die Stille zu uns sprechen wollte.«

Der Kapitän wandte sich ihnen zu. »Was ist mit Ihnen, meine Herren? Wollen Sie nicht an Land gehen? Sie hatten sich doch so sehr auf Menorca gefreut!« Er hatte dem Meer den Rücken zugekehrt und wies auf die Bucht. »Diese Insel birgt viele Schönheiten, vor allem auch geheime Plätze, wo Ihr Euch verbergen könnt, wenn sich das als notwendig erweisen sollte.« Er lachte dröhnend und konnte sich gar nicht beruhigen.

Diese versteckte Drohung, vor allem aber das laute Gelächter erwiesen sich als grober Fehler. Denn er überhörte ein gewaltiges Rauschen, das sich plötzlich von der Seeseite aus erhoben hatte. Eine Schaluppe mit dunklen Segeln tauchte urplötzlich vor der Kogge auf. An ihrem hohen Mast flatterte eine schwarze Fahne. Der Totenkopf mit den gekreuzten Knochen ließ keinen Zweifel daran, dass sich ihnen ein Piratenschiff mit hoher Geschwindigkeit näherte. Wo war es nur hergekommen? Es hatte höchster seemännischer Kunst bedurft, um das Felsenriff der Nachbarbucht zu umrunden, ohne die Segel zu streichen. In voller Fahrt kam die Schaluppe auf sie zu.

Dann ging alles sehr schnell. Das Piratenschiff legte an der Längsseite an. Mehrere Enterhaken flogen herüber und bohrten sich in die Bordwand. Mindestens zehn verwegene Gestalten zogen die Kogge nahe an die Schaluppe heran. Die ersten Seeräuber sprangen mit geübtem Sprung herüber, als der Zwischenraum noch ziemlich breit war.

»Komm mit nach oben!«, schrie Uthman. »Ohne den Beistand von Brunella ist unser Leben keinen Pfifferling wert.« Er sprang zur Leiter, ehe ihn ein Wurfbeil treffen konnte. Henri erkannte, dass Uthman Recht hatte. Er zögerte noch einen Atemzug lang, ob er dem Kapitän zu Hilfe eilen sollte. Denn Ernesto di Vidalcosta war wie gelähmt stehen geblieben. Er wusste, dass er gegen die Übermacht der Piraten keine Chance hatte. Es war zu spät.

Von der untersten Sprosse der Leiter blickte Henri noch einmal zurück. Einer der Piraten, der als Erster herübergesprungen war, erhob sein Beil und spaltete dem Kapitän der Kogge mit einem einzigen Hieb den Kopf. Nur mühsam gelang es dem Angreifer, das Beil wieder herauszuziehen, das durch Hals und Schultern bis in den Körper gedrungen war. Henri hatte schon an vielen Kämpfen teilgenommen. Blut und Verwundungen hatten ihn niemals unberührt gelassen. Aber der Hass und die wütende Gewalt, die in diesem Hieb steckten, waren furchtbar. Wo nur war Gott in solchen Augenblicken?

Er kletterte die Leiter hoch, so schnell es die schwankenden Sprossen zuließen. Was ihn oben erwartete, hatte er geahnt. Brunella hatte sich ihrer Fesseln entledigt. Ob Uthman das Seil mit seinem Messer durchschnitten hatte oder ob Arturo die Fesseln gelöst hatte, während er seine Lust befriedigte, konnte Henri nicht feststellen. Uthman stand wie ein Racheengel in der Mitte des Raumes. Ob Brunella ihm den Dolch aus dem Gürtel gerissen oder ob er ihr die Waffe freiwillig gegeben hatte, auch das blieb unklar. Aber Henri sah mit einem Blick, dass Brunella dem verhassten Mann mit der Klinge die Kehle durchbohrt und danach den Körper mit zahllosen Stichen geradezu zerfleischt hatte. Uthman hatte dem anderen Wachmann, der seinem Kameraden beistehen wollte, mit einem Griff das Genick gebrochen.

Brunella ließ den Dolch fallen und sprang zur Treppe. »Valentino! Hier bin ich! Hier oben! Ich habe schon gute Arbeit geleistet!«

Auf der obersten Sprosse der Leiter erschien ein Mann.

Sein Gesicht war von Hass verzerrt, und er hielt sein Beil wurfbereit in der Faust. Brunella stürzte ihm entgegen und wollte sich ihm an die Brust werfen. Aber er schob sie beiseite. »Wer sind diese Männer? Hast du etwa einen anderen Liebhaber gefunden?«

Brunella trat einen Schritt zurück und funkelte ihn wütend an. »Wie kannst du nur so etwas von mir denken?« Sie deutete auf Uthman. »Dieser dunkelhaarige Mann hat mir das Leben gerettet, als der Kapitän mich töten lassen wollte.« Sie übertrieb, aber das war bei dem leicht erregbaren Valentino angebracht.

»Und der andere hier? Gehört er zur Besatzung?«

»Sein Name ist Henri. Er ist klug und verschlagen. Es ist ihm nämlich gelungen, das Versteck zu finden, in dem der Kapitän seine Silberbarren und kostbaren Leuchter aufbewahrt. Im Schiffsrumpf neben der Bolde stehen zwei Kisten, die mit Tüchern abgedeckt sind.«

Valentino ließ sein Beil sinken und gab Brunella einen flüchtigen Kuss. »Das klingt nicht übel, mein Herzchen! Aber wir müssen uns beeilen, ehe die Besatzung zurückkehrt. Spring auf die Schaluppe, und zeige den beiden Männern, wie sie das Enterseil benutzen! Inzwischen werde ich die Kisten hinüberschaffen lassen.«

Er sprang leichtfüßig auf das untere Deck und verschwand mit einigen anderen im Schiffsrumpf. Brunella gab Henri und Uthman einen Wink, dass sie ihr folgen sollten. Ehe sie jedoch umständliche Erklärungen abgab, auf welche Weise sie sich am besten auf das andere Schiff hinüberschwingen könnten, waren Henri und Uthman schon mit einem weiten Sprung auf das Deck der Schaluppe gesprungen.

Dort wurden sie von zwei älteren Seeräubern empfangen, die sie für Gefangene hielten. Obwohl Brunella lauthals zeterte, die beiden seien Gäste und keine Gefangenen, band man ihnen die Hände auf dem Rücken zusammen und legte ihnen eine Eisenkette um die Knöchel. »Gefangene?«, rief der ältere, der ziemlich grob zupackte. »Seit wann gibt es denn bei uns Gefangene? Entweder spaltet man Feinden den Kopf, oder man wirft sie ins Meer. Manchmal gibt man ihnen die Möglichkeit, sich eins von beiden auszusuchen.« Er stieß die beiden vor sich her und warf sie aneinander gefesselt in eine dunkle Kammer unter Deck.

Uthman rieb sich die Schulter. »Hoffentlich hat mir dieser Teufel nicht den Arm gebrochen. Ich möchte ja nicht über falsche Entscheidungen jammern. Aber meinst du nicht, dass auf Menorca zwischen Steineichen und Olivenbäumen bessere Luft gewesen wäre?«

»Aber wie lange hätten wir die gute Luft dort atmen können! Vielleicht hätte man uns sehr schnell an einem knorrigen Ast aufgehängt. Wie war noch deine Geschichte von Skylla und Charybdis?«