»Ich weiß und muss es leider zugeben«, meinte Uthman traurig, »dass die Menschen des Orients sich an dieser Art der Darbietung berauschen können, vor allem dann, wenn dem Verurteilten dabei möglichst viele Schmerzen zugefügt werden. Ein heimlicher Mord in einem Kellergewölbe wird nicht zur Kenntnis genommen.«
»Diese finstere Seite des Menschen offenbart sich nicht nur im Orient«, gab Henri zu. »Mir ist es nicht erspart geblieben, die Lust und die Befriedigung der Zuschauer zu beobachten, als man die Großmeister unseres Ordens auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Aber bin ich anders? Es verschaffte mir ein unerhörtes Gefühl der Genugtuung, als ich Philipp sterben sah.«
Uthman fand ein Wort der Entschuldigung. »Du hattest ein Versprechen einzulösen und musstest den Fluch der Großmeister erfüllen. Das war deine Pflicht, die sich von der lüsternen Schaulust unterscheidet, welche die Menschen dazu treibt, einer grauenvollen Hinrichtung beizuwohnen. Aber erzähle weiter! Denn ich hoffe, dass es nicht zu einer Hinrichtung kam.«
»Die Soldaten des Emirs hatten schließlich die Straße geräumt«, berichtete Henri und schob mit seinen Händen einen imaginären Pöbel zur Seite. »Ein paar Neugierige hatten es gewagt, sich gegen die Mauern der Häuser zu pressen. Die Schwerverletzten hatte man an den Rand der Straße gelegt, genauer gesagt, aufeinander getürmt. Wer von ihnen noch gehen konnte, war davongehumpelt.
Als der dumpfe Ton der Darabukka – der großen Trommel – ertönte, konnte auch ich meine Neugier nicht mehr bezähmen. Vorsichtig lugte ich über die Mauer. Als Erstes erschienen die Schwertträger der Palastwache des Emirs. Rücksichtslos teilten sie mit der flachen Klinge ihrer Waffen Hiebe aus, wenn sich einer von der Hausmauer löste, um besser sehen zu können. Es folgte die lange Reihe der Bogenschützen und Reiter, die ihre Lanzen gesenkt hielten. Die Pferde tänzelten unruhig, als sie ihren Weg durch die enge Straße nehmen mussten. Hinter diesem martialischen Aufgebot erschienen die Würdenträger des Hofes von Al-Qudz. Sie hatten Jerusalem verlassen, um an dieser Demonstration der Macht teilzunehmen. Was mich jedoch am meisten erstaunte, war die Reihe der Frauen am Schluss des Zuges. Voran schritten vier wunderschön gekleidete Frauen. Ich nahm an, dass es sich bei ihnen um diejenigen handelte, die dem Emir rechtmäßig nach dem Ritus eures Propheten angetraut waren. Danach folgten andere Frauen, weniger prachtvoll gekleidet. Ein Mann, der sich in meinem Versteck hinter der Mauer eingefunden hatte, erklärte mir, dass es sich um die Konkubinen des Emirs und um seine Lieblingssklavinnen handele. In gebührendem Abstand erschien eine verschleierte Sänfte, die von zwei kräftigen Nubiersklaven getragen und von mehreren Pagen in golddurchwirkten Gewändern flankiert wurde. Es ließ sich nicht erkennen, wer im Inneren der Sänfte saß.
›Könnt Ihr mir sagen, wer diese Vorzugsstellung genießt?‹ fragte ich meinen Nachbarn.
Er sah mich erstaunt an. ›Wie, das wisst Ihr nicht? Es ist die Qayna, die dem Herz unseres Gebieters am nächsten steht. Wenn düstere Gedanken ihn bedrängen, erfreut sie ihn durch Gesang und Tanz. Man kann sie nicht zu den Sklavinnen rechnen. Denn sie wurde in Mekka erzogen und erhielt ihre Ausbildung in Bagdad. Es geht das Gerücht, Emir Nadjm Ghazi habe für diese Qayna eine horrende Summe gezahlt, die ungefähr den Schätzen des Königs Salomo entspricht.‹
Der Zug wälzte sich durch die Straßen von Taima bis vor die Pforten der Moschee. Die Schwertträger und Lanzenreiter nahmen auf dem Platz Aufstellung. Der Emir und sein Gefolge betraten die Moschee. Die Würdenträger knieten auf dem kostbaren Perserteppich im Hauptraum nieder. Die Frauen nahmen ihre Plätze im Hintergrund ein. Alle hatten sich ihrer Schuhe entledigt und im kühlenden Wasser des Brunnens, im Schatten der Platanen, Arme und Füße gewaschen. Ich tat es ihnen nach.
Nach einer Weile hörte ich draußen laut den Ruf des Imam: ›Qad qamat as-salat – Das Gebet hat begonnen.‹ Die Männer, die dem Zug bis zur Moschee gefolgt waren, warfen sich in den Staub des Vorplatzes. Nur wenige hatten sich einen Gebetsteppich mitgebracht.«
»Was tatest du?«, fragte Uthman. »Bliebst du stehen?«
»Nein, natürlich warf auch ich mich nieder. Nicht etwa nur, weil ich fürchtete, als Ungläubiger entlarvt zu werden, sondern auch, weil ich die anderen in ihrem Glauben an Allah und den Propheten nicht verletzen wollte.«
»Das beweist wieder einmal deine edle Gesinnung.«
Henri wollte auf dieses Lob nicht eingehen, obwohl er Einwände gehabt hätte. »Damals lernte ich in der Gemeinschaft dieser Gläubigen des Islams, was eine Rak’a ist. Dir muss ich ja nicht den wichtigsten Teil des Gebets erklären, der aus Verbeugung und Niederwerfung besteht. Ich hatte nicht das Gefühl, mit dieser Rak’a unseren Gott, Jesus Christus und die Jungfrau Maria zu beleidigen.«
»Vielleicht wurden dir bei diesem Gebet sogar deine Sünden vergeben«, gab Uthman zu bedenken.
»Ja, vielleicht. Aber ich hoffte auch, dass der Emir Gelegenheit fand, über Recht und Unrecht sowie über die Ausübung und die Grenzen einer Gewaltherrschaft nachzudenken.«
»Meine Erfahrung sagt mir, dass du mit Hoffnungen dieser Art einen orientalischen Herrscher überfordert hast.«
»Nicht nur einen orientalischen, fürchte ich«, fuhr Henri fort. »Denk nur an König Philipp von Frankreich, den ich getötet habe.«
Wieder einmal fand Uthman eine Entschuldigung für diese Tat. »Das war ein Tyrannenmord! Du solltest nicht zu viele Gedanken an dieses Geschehen verschwenden. Bitte erzähle weiter!«
Der Imam hatte eine ziemlich lange Sure für seinen Vortrag gewählt, und die Niederwerfungen nahmen kein Ende. Das entsprach wohl der Würde dieses Besuches. Die Leute auf dem Vorplatz wurden unruhig. Mehr als einmal ließ einer der Schwertträger seine blanke Klinge auf einen der gebeugten Rücken herabsausen.
Als endlich draußen die Stimme des Imams zu hören war: ›Der Friede sei über Euch und die Barmherzigkeit Gottes‹, erhob sich ein befreiendes Seufzen. Die Reihenfolge des Zuges hatte sich beim Verlassen der Moschee geändert. Als Erstes zeigte sich der Emir. Er wurde mit Jubelgeschrei begrüßt, in das ich nicht einstimmen mochte. Aber ich schob mich in die vordere Reihe. Das war eine bewusste Provokation. Für einen Augenblick verhielt der Emir seinen Schritt. Wir schauten uns starr in die Augen. Er hätte seine Wache rufen können, um mich verhaften zu lassen. Er hätte mich auch in aller Öffentlichkeit als Christ entlarven und mir sogleich zur Befriedigung der Menge den Kopf abschlagen lassen können. Oder er hätte mich den Gläubigen ausliefern können, die nicht gezögert hätten, mich zu lynchen.
Nichts von alledem geschah. Er zögerte einen Atemzug lang. Dann löste er seinen Blick und setzte seinen Gang fort. Die Trommel war verstummt. Nicht die Würdenträger, sondern die Pagen schritten voran. Sie spielten heitere Weisen auf kleinen Flöten, die Bug genannt werden. Die Bewohner von Taima hielten nicht mehr ihre Köpfe gesenkt, sondern schlossen sich dem Zug mit tänzelnden Schritten an. Die heilige Handlung war vorüber.
Eine fröhliche Stimmung hatte sich der Menge bemächtigt. Irgendjemand wusste, dass auf dem Platz am Ortsrand von Taima ein Fest stattfinden werde, zu dem alle Einwohner geladen seien. Ich aber wollte vor allem wissen, wohin sich der Emir nun wenden würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er gemeinsam mit seinem Gefolge in einem Zelt nächtigen würde. Diese Annahme erwies sich als richtig. Einige Bewaffnete setzten sich wieder an die Spitze des Zuges und vertrieben die Pagen mit groben Worten. Knechte hatten den Würdenträgern ihre gesattelten Pferde gebracht. Sie ritten hinter dem Emir die kleine Anhöhe zur Burg hinauf, die mit Efeu bewachsen gar nicht so Furcht erregend wirkte. Meine Blicke forschten schon nach einer Möglichkeit, wie ich eindringen konnte, ohne von Wachen überrascht zu werden. Erst zu diesem Zeitpunkt erkannte ich, dass auch die Qayna zu Pferd neben dem Emir Nadjm Ghazi auf das weit geöffnete Portal zuritt.