Nach einer Weile des Nachdenkens sagte Uthman: »Mir scheint, dass es für dich kein Zurück gab, wenn du nicht als Feigling dastehen wolltest.«
»Das dachte auch ich«, bestätigte Henri. »Aber nicht nur deswegen ging ich auf unsere Abmachung ein. Ich war zu allem bereit, um Abu Hassan zur Freiheit zu verhelfen. Darum nickte ich zum Einverständnis.
›Zieh!‹, rief der Emir, ehe ich mich anders entschließen konnte.
Ich hatte lange nicht mehr mit dem Dolch gekämpft. Louis und die falschen Franziskaner hatten mir keine Möglichkeit gegeben, eine Waffe zu benutzen. Sie hatten mich niedergeschlagen und gefesselt, als ich nicht bei Besinnung war. Zum letzten Mal hatte ich in Akkon meinen Dolch benutzt, als ich im Blutrausch alle Feinde niedermetzelte, die sich mir in den Weg stellten. Als ich wieder zu Verstand kam und klare Gedanken fassen konnte, schämte ich mich meiner Taten. Denn ich hatte viele Unschuldige getötet, nur weil sie Sarazenen waren.«
Uthman war der Meinung, dass er etwas richtig stellen müsse. »Aber du hast meinem Vater das Leben geschenkt, obwohl er Muslim war. Und du bist mein Freund geworden, obwohl auch ich ein gläubiger Anhänger des Propheten bin.«
»Ich habe auf meiner Reise durch den Orient viel dazugelernt«, erwiderte Henri. »Aber damals jagte mir der blutbesudelte Dolch großes Entsetzen ein. Als ich aus der Hölle von Akkon entkommen war und unverletzt Zypern erreicht hatte, schwor ich mir, niemals mehr im Blutrausch einen unschuldigen Menschen zu töten.«
»Ging der Kampf zwischen dem Emir und dir um Leben und Tod, oder ging es nur darum, wer den anderen kampfunfähig machen konnte?«
»Heute weiß ich das nicht mehr so genau. Aber was ich schon nach den ersten Stichen erkannte, das waren die Hochachtung und eigentlich sogar eine gewisse Verbundenheit, die wir füreinander hegten. Nein, ich glaube, dass ich ihn niemals getötet hätte.«
»Wahrscheinlich hat die Versklavung, die der Emir dir angedroht hatte, deine Kämpferfähigkeiten angestachelt. Meinst du nicht, dass Nadjm Ghazi dir sogar das traurige Los eines Sklaven erlassen hätte, wenn du als Verlierer aus diesem Gefecht hervorgegangen wärst?«
»Niemals!«, rief Henri. »Ich hätte diesen Gnadenerweis auch gar nicht angenommen.«
Uthman schüttelte verständnislos den Kopf. »So eine Dummheit ist mir noch niemals begegnet. Allein schon für so eine unsinnige Vorstellung von Ehre hättest du eine Strafe verdient!«
»Wir tasteten uns gegenseitig ab, umkreisten uns, um die Geschicklichkeit des Gegners zu erkunden. Ich war zu langsam. Mir fehlte die Übung. Denn als der Emir plötzlich zustieß, konnte ich nicht schnell genug ausweichen. Aus meinem linken Oberarm quoll ein Blutstrom. Merkwürdig war nur, dass der plötzliche Blutverlust mich nicht schwächte, sondern mir Kraft verlieh. Die Erinnerung an meine Vergangenheit als Templer und als einen der letzten Kämpfer im Heiligen Land überwältigte mich. War ich nicht als Christ unter dem Zeichen des Kreuzes ausgezogen, um das Heilige Land von den Ungläubigen zu befreien? Sollte ich mich jetzt durch einen Emir von Al-Qudz besiegen lassen, der die Absicht hatte, mich zu versklaven? Ich wäre nicht länger wert gewesen, mich Tempelritter zu nennen.
Mein linker Arm hing kraftlos herunter. Ich umklammerte den Dolch mit meiner rechten Faust. Nadjm Ghazi bemerkte meinen Blutverlust und hielt sich wohl schon für den Sieger. Einen Atemzug lang war er abgelenkt. Ich zögerte keine Sekunde und stieß ihm meine Waffe fast bis zum Heft in seinen Oberschenkel. Er gab keinen Laut des Schmerzes von sich. Aber die Verletzung raubte ihm seine Beweglichkeit, sodass er meinem Angriff nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte. Ohne Mitleid stieß ich ihm meinen Dolch in den anderen Oberschenkel. Er ging in die Knie und fiel seitwärts um, als er vergeblich versuchte, wieder aufzustehen. Ich hätte ihm leicht die Kniesehnen durchtrennen können, aber ich wollte ihn nicht zum Krüppel machen.
›Hilf mir auf und begleite mich zur Burg‹, flüsterte er mir mit flatternder Stimme zu. Einen Christen und ehemaligen Tempelritter um Hilfe bitten zu müssen war wohl die größte Demütigung, die ihm jemals widerfahren war. Ich steckte meine Waffe in den Gürtel und stützte ihn mit meinem rechten Arm. So wankten wir miteinander den Burgberg hinauf.«
Uthman atmete auf. »Ich bin froh, dass dieser Kampf so ausgegangen ist. Mir ist da ein seltsamer Gedanke gekommen. Der Emir könnte dein Bruder sein. Ihr seid euch in eurem Stolz und der ritterlichen Sinnesart sehr ähnlich, obwohl Nadjm Ghazi altem persischen Geschlecht und du dem schottischen Adel entstammst.«
Henri sah seinen Gefährten erstaunt an. Darüber hatte er noch niemals nachgedacht. Aber es war etwas Wahres an dem, was Uthman festgestellt hatte.
»Man hatte uns vom Turm aus kommen sehen«, fuhr er fort. »Ein Nubiersklave nahm uns in Empfang, wusch die Wunden und rieb sie mit einer beißenden Essenz ein, die wie Feuer brannte. Der Emir führte mich in seine Privatgemächer und ließ kühlende Getränke kommen.
›Bestehst du darauf, in das Verlies geführt zu werden, um dich persönlich zu überzeugen, dass Abu Hassan hier nicht gefangen gehalten wird? Die vielen Treppen bis zum Kerker fallen mir schwer.‹
Ich schüttelte den Kopf und erklärte, dass ich seinem Wort vertraute.«
»Sei ehrlich!«, forderte mich Uthman auf. »Hattest du nicht ganz im Geheimen die Befürchtung, dass dich Nadjm Ghazi betrügen und trotz deines Sieges die Besichtigung des Kerkers ausnutzen könnte, um dich dort einzuschließen?«
»Nein, ich vertraute ihm wirklich, obwohl mir über die Listen der Leute aus Mardin allerlei zu Ohren gekommen war.«
»Hat er denn seinen Preis bezahlt?«
»Ja, und der Tanz der Qayna war das Schönste, was ich auf meiner Fahrt durch den Orient erlebte. Der Emir hatte in die Hände geklatscht. Aus einer Tür, die zu einem Nebengemach führte, trat eine verschleierte Frau. In wiegendem Gang näherte sie sich dem Sitz ihres Gebieters, der sich auf einem Kissenberg ein Lager bereitet hatte. Zwei Musikanten waren ihr gefolgt. Zart begann einer von ihnen mit den Fingern die Quitar, jene kleine arabische Trommel, zu berühren. Das zarte Klopfen ergab ein Geräusch, das fallenden Regentropfen glich. Dazu brachte der andere die arabische Laute Ud zum Tönen. Schon da fühlte ich mich wie in einem Zaubergarten.
Langsam ließ die junge Frau ihren Schleier sinken. Ihre unverhüllte Schönheit erschien mir wie ein edles Gewächs aus diesem Garten. Am liebsten hätte ich mich abgewandt, weil ich das Gefühl hatte, ein Geheimnis zu enthüllen, das besser verschlossen blieb. Aber ihr Tanz führte mich immer weiter in diese geheimen Abgründe.
Ihre Bewegungen brachten das morgendliche Erwachen einer exotischen Blume zum Ausdruck. Langsam öffnete sie ihre schmalgliedrigen Hände, versetzte Arme, Schultern und Hüften in kreisende Schwingung, sodass die goldenen Armreifen an Armen und Fußgelenken ein melodisches Klingeln im Takt der Trommel und Laute ertönen ließen. Immer wirbelnder drehte sie sich auf den Zehenspitzen, immer drängender wurde der Klang der Flöte, die sich bis in höchste Töne steigerte, bevor sie mit einem schrillen Ton abbrach. Die Qayna blieb reglos stehen, bis der letzte Ton verklungen war. Dann sank sie wie ein welkes Blatt zu Boden. Der Emir trat auf sie zu, ohne dass seine Schmerzen zu erkennen waren. Er hob sie vom Erdboden auf, aber er umarmte sie nicht. Vielleicht hätte eine so besitzergreifende Geste auch den Zauber zerstört.
›Lasst mich jetzt mit meiner Qayna allein.‹ Dies war kein Befehl, sondern eine Bitte. Ich erhob mich sofort und folgte dem Nubiersklaven, der mir in der Burg ein Lager zuwies. Lange Zeit konnte ich nicht einschlafen. War der Preis, den Nadjm Ghazi für seine Niederlage gezahlt hatte, nicht zu hoch gewesen? Hatte er vielleicht, wenn der Morgen anbrach, nicht doch den Wunsch, mich töten zu lassen? Er hatte mir ein Geschenk gemacht, dessen ich mich nicht würdig fühlte. Du wirst mich für verrückt halten, Uthman, aber in dieser schlaflosen Nacht wünschte ich beinahe, dass unser Kampf anders ausgegangen wäre. Bis zu meinem Lebensende hätte ich diesem Mann treu gedient.«