»Hisst die Pestflagge! Das wird dieses Frachtschiff in gebührendem Abstand halten!«
Mit dieser Entscheidung hatte er die richtige Wahl getroffen. Das Frachtschiff drehte bei und verschwand hinter dem Horizont.
»Wir werden unsere Route ändern«, ordnete Valentino an. »Wo Frachtschiffe fahren, sind auch Karavellen nicht weit, die zum Schutz eingesetzt sind. Aus Erfahrung weiß ich, dass sie mit besonderen Waffen bestückt sind, um den Kampf gegen Seeräuber aufzunehmen.«
»Darf man fragen, welchen Kurs wir jetzt einschlagen?«, fragte Henri möglichst höflich.
»Halts Maul!«, erhielt er zur Antwort. »Oder möchtest du wissen, ob ich dich den Fischen vor Ibiza oder in einer anderen Bucht zum Fraß vorwerfe?« Valentino erhob drohend die Faust und stapfte davon.
Kurz darauf ließ sich Brunella sehen. Die beiden sahen ihr erwartungsvoll entgegen. »Was bedeutet die Kursänderung?«, erkundigte sich Uthman. Brunella sah sich um, ob Valentino sich nicht in der Nähe befand, und gab dann bereitwillig Auskunft, dass sich nun leider die Fahrt verlängern werde, weil man zunächst die Ostküste von Ibosim, das auf Katalanisch Ibiza genannt wurde, ansteuere und sich dann erst nach Süden zu den Pityusen wende. »Die Hoffnung auf eine baldige Landung müsst ihr zunächst erst einmal aufgeben.«
»Da hat der Schaitan doch seine Hände im Spiel«, fluchte Uthman. Aber Henri beruhigte ihn. »Warum ersehnst du dir das Ende der Fahrt, die für uns wahrscheinlich neue Schwierigkeiten bringen wird? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ein Wechsel oft genug die augenblickliche Lage verschlimmert.«
»Das hört sich nicht gut an«, sagte Uthman. »Wie war das denn auf deiner Reise mit dem Emir und seinem Gefolge? Spanne mich nicht länger auf die Folter und berichte weiter!«
»Anfangs hatte ich Glück«, setzte Henri seine Erzählung fort. »Mahmud, der Gefolgsmann des Emirs, der neben mir ritt, war ziemlich gesprächsbereit. Er wollte mich aushorchen, wer ich denn sei. Aber mir gelang es, ihn zum Reden zu bringen. Auch er stammte, wie der Emir, aus Mardin und war stolz darauf. Mit dieser Stadt musste es eine besondere Bewandtnis haben. Das behauptete er jedenfalls. Um mir die Besonderheit von Mardin zu erklären, erzählte er mir eine alte Legende. Ich ermunterte ihn zu dieser Geschichte, weil ich mir erhoffte, das rätselhafte Wesen des Emirs besser verstehen zu können. Irgendwie hatte ich die Befürchtung, Nadjm Ghazi wolle mich dazu bringen, in seiner Burg nach Abu Hassan zu suchen, damit er mich ergreifen und bestrafen lassen könne. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte den Verdacht, dass er sich daran geweidet hätte.«
»Könnte der Grund dieses merkwürdigen Verhaltens sein, weil du ein Tempelritter und niemals bereit warst, deine Gelübde zu brechen oder deinen Glauben zu verraten?«
»Vielleicht war es so. Manchmal befürchtete ich, er werde erst befriedigt sein, wenn er mich halbtot geschlagen, oder zumindest versklavt hätte. Für mich war es schwer, seine Gedanken zu verstehen.«
Uthman verzog sein Gesicht zu einem grimmigen Grinsen. »Ich weiß, was in ihm vorging, aber ich kann solch eine Gesinnung nicht gutheißen.«
»Ich musste mich mit meinem Verdacht abfinden und beschloss, auf der Hut zu sein. Die Geschichte, die ich zu hören bekam, gab mir wenig Aufschluss. Vielleicht siehst du das anders.
Mein Begleiter behauptete, der Prophet Yunus, den wir Christen Jonas nennen und nach dem eine Sure des Korans benannt ist, habe in der Gegend von Mardin seine Religion verbreiten wollen. Aber die Leute dort hätten von ihm ein Wunder verlangt. Auf einem Berg in der Nähe lebte ein Drache. Den sollte Yunus töten. Das sei Yunus nach einem heftigen Kampf gelungen. An dem Ort, an dem Yunus den Drachen überwunden habe, sei der Ort Mardin entstanden.«
»Soll das etwa bedeuten, dass diese Leute aus Mardin erst eine Leistung verlangen, ehe sie zu Zugeständnissen bereit sind?«, fragte Uthman ein wenig ratlos.
»Das könnte zu unserem Emir passen. Ich bin aber nicht bereit, für ihn irgendein Ungeheuer aus dem Weg zu räumen. Mein Begleiter wollte, dass ich mir noch eine weitere Legende anhörte. Warum nicht? Der Ritt zur Weihrauchstraße gestaltete sich ziemlich eintönig. Jetzt behauptete er nämlich, ein Feuer anbetender Priester habe für seine Tochter Marta die Stadt Mardin gegründet. Obwohl ich keinerlei Lust verspürte, drängte er mir noch eine weitere Geschichte auf: Ein unheilbar kranker Königssohn sei von seinem Vater ausgesetzt worden, habe sich im Fluss des dortigen Flusses gewaschen und vom Wasser getrunken. Nach drei Tagen sei er völlig wiederhergestellt gewesen. Mit diesem Wasser könnten alle Gebrechen geheilt werden.«
»Du hättest dem Emir doch vorschlagen sollen, ob er nicht die Wunden, die du ihm im Kampf beigebracht hattest, im Flusswasser von Mardin heilen lassen wollte.«
»Uthman!«, rief Henri entsetzt. »Ich fürchte, dieser Vorschlag hätte unweigerlich mit einer Bastonade geendet. Dann hätte ich nach Mardin wandern dürfen, um in dem wundertätigen Wasser meine Füße heilen zu lassen.«
»Der Zug bewegte sich nur langsam vorwärts. Bei Sonnenuntergang befahl der Emir, dass man für die Nacht Zelte aufstellen solle. Mein Begleiter forderte mich auf, in seinem Zelt die Nacht zu verbringen. Aber ich hatte keine Lust, mir weitere Geschichten über Mardin anzuhören. Darum bedankte ich mich höflich und erklärte ihm, dass ich es seit einem längeren Aufenthalt in der Wüste vorzöge, unter freiem Himmel zu schlafen. Es wäre allerdings besser gewesen, wenn ich mich nicht abgesondert hätte.
Nadjm Ghazi hatte sich in ein prunkvolles Zelt zurückgezogen. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, neben dem Eingang eine Stange errichten zu lassen, auf der ein Wimpel flatterte. Ich hatte keine Lust, meinen Begleiter zu fragen, ob das vielleicht die Farben von Mardin seien.
Einer der Gefolgsleute von Nadjm Ghazi hatte sich erboten, die Qayna in das Zelt des Emirs zu bringen. Aber er lehnte das gut gemeinte Anerbieten wütend ab und hob die verschleierte Frau persönlich aus der Sänfte. Ich beobachtete noch, wie er sich Wasser und Früchte bringen ließ. Das war das Letzte, was ich von ihm sah, ehe uns ein böses Geschick ereilte.
Ich hatte mich vom Lager entfernt und in meine Beduinendecke gewickelt. Die Stille in dieser Weite tat mir wohl, und das Firmament über mir erinnerte mich daran, dass ich eine Weile lang nicht gebetet hatte. Niemals hatte ich mich Gott so nahe gefühlt wie in der Wüste. Ich hatte mich gerade in mein Gebet vertieft, als plötzlich ein lautes Getümmel entstand. Eine wilde Reiterschar stürmte über den Platz, warf Fackeln in das Innere der Zelte und zermalmte die Menschen, die vor dem Feuer flüchteten, unter den Hufen ihrer struppigen Pferde.
›Ghazu! Ghazu!‹ – Reiterüberfall der Beduinen –, ertönte ein vielstimmiger Schreckensruf. Der Emir hatte es versäumt, Wachen aufzustellen. Jeder versuchte, seine eigene Haut zu retten. Das hatte es allerdings bei den letzten Rückzugsgefechten auch unter uns Tempelrittern gegeben. Damals hatte ich mich deswegen sehr geschämt. Alle hatten versucht, in einem Schiff nach Zypern Platz zu finden. Vor Akkon war ein Boot sogar wegen Überladung gekentert.
Niemand nahm auf den Emir Rücksicht, obwohl es doch bei allen ritterlich gesinnten Menschen die erste Pflicht ist, den Feldherrn zu schützen. So kam es, dass mehrere Beduinen ungehindert in das Zelt des Emirs eindringen konnten. Ich vernahm einen gellenden Schrei, der nur von einer Frau stammen konnte. Die Qayna, fuhr es mir blitzartig durch den Kopf. Ohne nachzudenken, drängte ich mich durch die Menge, die nun völlig in Panik geraten war. Aber ich kam zu spät. Ich sah noch, wie einer der Beduinen die Frau vor sich auf das Pferd hob und fest an seine Brust presste. Als er sich umsah, erkannten wir uns. Es war einer der Beduinen, die mich vor dem Tod des Verdurstens gerettet hatten. Ich ließ meine Lanze sinken, die ich schon erhoben hatte. Mir wurde klar, dass sie es auf die Frau abgesehen hatten. Denn so schnell sie gekommen waren, verschwanden sie wieder. Zurück blieb ein Chaos.«