Henri und Uthman hatten schon so häufig den Ruf »Land in Sicht!« vernommen, dass sie nicht einmal den Kopf hoben, als sich der Junge im Mastkorb meldete. Zu oft hatte man ihnen versprochen, dass sie nun bald wieder festen Boden unter den Füßen spüren würden. Aber es war nie etwas daraus geworden. Erst Brunella weckte sie aus ihrer Lethargie. »Der Landstrich, den man hinten am Horizont erkennen kann, ist die Insel Ibiza. Wir halten uns von ihr fern. Denn vor Jahren haben die Heere des Erzbischofs von Tarragona, Guillem de Montgri, im Auftrag von König Jaime diese Insel erobert. Damals begann eine für uns unangenehme Säuberungsaktion, weil Ibiza als Piratenstützpunkt galt. Wir zogen uns dann nach Süden auf die Pityusen zurück. Man nennt sie so wegen ihres dichten Pinienwaldes.«
»Werden auch wir das Schiff verlassen dürfen?«, erkundigte sich Henri.
Brunella sah ihn erstaunt an. »Aber natürlich. Valentino wird euch doch nicht aus den Augen lassen wollen.«
»Hoffentlich können wir uns auf der Insel frei bewegen«, wünschte sich Uthman. »Weißt du, ob Valentino irgendwelche Pläne mit uns hat?«
»Darüber kann ich euch keine Auskunft geben. Mit Sicherheit kann ich nur sagen, dass man euch nicht an einer der vielen Pinien aufknüpfen wird. Denn das werde ich zu verhindern wissen.«
Henri und Uthman waren übereinstimmend der Meinung, dass dies unter den bedrohlichen Umständen eine einigermaßen beruhigende Auskunft war. Aber sie konnten ohnehin nichts tun, bis sie auf der Insel waren.
»Du hattest davon gesprochen«, wandte sich Uthman daher an Henri, »dass Emir Nadjm Ghazi sich einen Palast an der Weihrauchstraße bauen ließ. Hatte das irgendwelche Vorteile für ihn? Von dieser Pflanze habe ich nämlich schon oft gehört.«
»Die Griechen erlernten, so sagt man, den Nutzen des Weihrauchs erst nach dem Trojanischen Krieg. Aber dann wurde der Gebrauch dieser hellgelben Körner zu einem Luxus. Bei den Römern artete die Anwendung des Weihrauchs geradezu aus. Der römische Autor Plinius behauptete, dass Nero bei dem Begräbnis seiner Gemahlin Poppäa mehr Weihrauch opferte, als ganz Arabien in einem Jahr liefern konnte. Bei uns Christen galt Weihrauch zunächst als heidnisches Gräuel. Aber weil doch die Heiligen Drei Könige dem soeben geborenen Jesuskind außer Gold und Myrrhen auch Weihrauch brachten, gelangte der Weihrauch nun doch in unsere Kirchen. Aber er durfte nur Gott, nicht den Kaisern dargebracht werden.«
»Diese alten Geschichten sind ja sehr spannend«, gab Uthman zu. »Aber welche Vorteile versprach sich der Emir von Al-Qudz von einem Palast an der Handelsstraße, auf der auch Weihrauch seinen Weg nimmt?«
»Wie ich den Emir einschätzte, beruhte diese Ortswahl auf bewussten Überlegungen. Dass der Weihrauch neben anderen Spezereien zu den orientalischen Kostbarkeiten gehörte, wusste er wohl längst. Darum wollte er den mittleren Teil der Handelsstraße in seinem Einflussbereich halten. In Petra, wo sich viele Zwischenhändler niedergelassen hatten, errichteten auch wir Kreuzritter eine Burg und eine Kapelle.«
»Aber das hatte doch wohl nichts mit dem Weihrauch zu tun, obwohl jeder weiß, dass die Oberen des Templerordens sehr geschäftstüchtig waren.«
»Der Sultan der Ayyubiden, Saladin, vertrieb die Kreuzritter aus Petra. Wenn wirklich Absichten bestanden hätten, sich mit dem Weihrauchhandel zu beschäftigen, dann wäre dieses Geschäft gar nicht zustande gekommen. Denn die Burg der Kreuzritter bestand in Petra nur etwas mehr als fünfzig Jahre.«
»Du meinst also, dass es dem Emir nur um einen erweiterten Einflussbereich ging?«
»Das wollte ich spätestens in Yatrib, der ›Stadt des Propheten‹, die auch Medina genannt wird, ergründen. Wenn der Emir dort nicht den Wallfahrerpflichten nachkam, hatte er etwas anderes im Sinn.«
»Die Absichten und Gedanken dieses Emirs sind schwer zu durchschauen«, gab Uthman zu bedenken. »Wie verhielt er sich denn auf dem weiteren Marsch dir gegenüber?«
»Als wir am zweiten Tag unseres Rittes das Lager aufgeschlagen hatten, war er wohl zu einem Entschluss gekommen. Er rief mich in sein Zelt, bot mir aber keines der Kissen an, die auf dem Boden wie ein Turm aufgerichtet waren. Ich wertete das als ein Zeichen der Demütigung. Denn er selbst hatte auf mehreren Kissen mit gekreuzten Beinen Platz genommen, und die Qayna saß verschleiert in seiner Nähe.
›Ich könnte dich foltern lassen, damit du die Wahrheit gestehst‹, begann er wenig verheißungsvoll. ›Denn inzwischen habe ich mich mit meinen Würdenträgern beraten. Sie alle sind einhellig der Meinung, dass dieser Überfall der Beduinen von dir angestiftet wurde. Weil du den Aufenthaltsort und das Versteck der Beduinen kanntest, war allein dir es möglich, die Qayna zu finden und den Räubern das Lösegeld zu zahlen.‹ Er schwieg, und ich verzichtete auf den Versuch, mich zu entlasten. Seine Würdenträger, zu denen wahrscheinlich auch die Ankläger gegen Abu Hassan gehörten, hatten längst über mich gerichtet.
Die Qayna bewegte sich unter ihrem Schleier, und der Emir nahm das zum Anlass, mich weiter zu beschuldigen. ›Diese Frau an meiner Seite, die unendliche Qualen bei den Beduinen ertragen musste, hat Eure Ankunft im Lager der Badu beobachtet. Sie begrüßten Euch wie einen Freund. Die Qayna hat mir berichtet, dass Ihr nichts unternahmt, um ihr das schlimme Los einer Gefangenen zu erleichtern. Im Gegenteil! Ihr wolltet sie zwingen, vor diesen räudigen Wilden zu tanzen. Aber meine Qayna hat sich dieser ungeheuren Forderung entzogen, obwohl man sie geschlagen und mit einer ehrenrührigen Behandlung bedroht hat.‹«
Uthman sprang auf. Er konnte seinen Zorn nicht länger bändigen. »Diese falsche Schlange! Diese Ausgeburt eines teuflischen Weibes! Ewig soll sie in der Hölle brennen!«
Henri blieb gelassen. »Der Herr hat sie bitter bestraft. Aber das war schon in Medina, wovon ich dir später erzählen werde. Mir blieb eine öffentliche Auspeitschung, die von den Würdenträgern gefordert worden war, zunächst erspart.«
»Das nenne ich eine seltsame Dankbarkeit«, warf Uthman ein. »Du hast dem Emir seine Qayna zurückgebracht und solltest dafür ausgepeitscht werden. Warum wohl ist der Emir dem Urteil seiner Würdenträger nicht gefolgt? Vielleicht hat er damals schon geahnt, dass alle diese Anschuldigungen, auch die gegen Abu Hassan, falsch waren.«
»Er konnte es aber doch nicht lassen, mich vor der Qayna zu demütigen. Denn er zwang mich, eine Haltung einzunehmen, die es ihm ermöglichte, mir einen Tritt zu verpassen, der mich nach draußen beförderte. Vor dem Zelt hatten sich einige Neugierige versammelt, die auf das Schauspiel einer Auspeitschung gehofft hatten. Als ich vor ihnen mit dem Gesicht im Staub lag, erhob sich ein gewaltiges Gelächter. Einige benutzten die Gelegenheit, mir auch ein paar schmerzhafte Tritte zu geben. Andere hielten mich an Armen und Beinen fest, damit die Reiter, die sich niemals von ihren geflochtenen Peitschen trennten, einen Hagel von Schlägen auf mich niederprasseln lassen konnten. Längst hatte sich herumgesprochen, dass sie in mir einen ehemaligen Tempelritter vor sich hatten. Das war für sie eine gute Gelegenheit, ihr Mütchen an einem Christen zu kühlen.
Mein Hemd zerriss, und meine Haut platzte auf. Das Blut floss neben mir in den Sand. Dem Emir, vor dessen Zelt dieser Angriff auf mich unter Gejohle stattfand, konnte das Geschrei und das Klatschen der Schläge nicht verborgen geblieben sein. Aber er kam nicht heraus, um die Menge zu zerstreuen. Nur mein Begleiter, der neben mir im Zug geritten war, kam herbei und verjagte schließlich die Menge mit drohenden Worten und Gebärden. Von da ab glaubte ich ihm, dass alle Leute aus Mardin etwas Besonderes seien, vor allem aber, dass alle diejenigen, die in Mardin geboren worden waren, für immer zusammenhielten. Offensichtlich hielt man ihn deshalb für einen Bündnisbruder des Emirs, und sie fürchteten eine für sie ungünstige Berichterstattung.
Das war wieder einmal so ein Augenblick, in dem ich meinen Leichtsinn verwünschte, der mich aus der Gemeinschaft meiner Ordensbrüder aus Zypern weggelockt hatte. Anderen wäre das nicht zugestoßen, denn sie hatten während der letzten Kämpfe und Niederlagen einen solch schweren Schock erlitten, dass keine noch so große Verlockung sie in das Heilige Land zurückgebracht hätte. Wahre Schreckensgeschichten machten die Runde. Die Mamelucken seien mit dem Teufel im Bunde. Die Zügel ihrer Pferde bestünden aus Feuer und verliehen ihren Reittieren eine unerreichbare Schnelligkeit. Vor allem aber führe zu ihren Siegen die Beherrschung der Totenbeschwörung. Mit geheimen Zauberworten könnten sie Tote aus dem Jenseits heraufrufen, die ihnen rieten, wie sie den Feind angreifen sollten, um ihn zu besiegen.«