»Ich bin so voller Zorn und Unruhe, dass ich mich kaum beherrschen kann«, erwiderte Uthman. Aber er folgte Henris Aufforderung, streckte sich auf den warmen Planken aus und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Henri blickte auf das Meer. Da waren einige kleine Boote, aber auch ein größeres Schiff, freilich kaum mehr als ein geduckter Punkt am Horizont.
»Wir sollten es im Auge behalten«, meinte Uthman, denn obwohl er keine Gefahr mehr durch die Schergen des Königs vermutete, schadete es auch nicht, wachsam zu sein, wenn die Truppen eines ganzen Landes nach einem fahndeten, von möglichen Absprachen des Kapitäns oder der Mannschaft mit den Piraten ganz zu schweigen.
Dann wandte er sich wieder an Henri. »Erzähle mir weiter, ob dir in Haifa etwas zustieß! Dein damaliger Reisegefährte und sein verdächtiger Freund lassen mich Böses ahnen. Über diese aufregenden Begebenheiten kann ich vielleicht unsere gegenwärtigen Sorgen ein wenig in den Hintergrund schieben.«
Henri war einverstanden. »Noch ehe wir in Haifa von Bord gegangen waren«, fuhr er mit seiner Geschichte fort, »hatte ich angeregt, uns nach einem Reittier umzusehen. Aber Louis schlug geradezu entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. Von diesen Rosstäuschern würde man nur betrogen. Es wäre ratsam, uns erst um Unterkunft in einer Herberge zu bemühen, um vielleicht den Wirt um Rat zu fragen.
Seine Reisebekanntschaft hatte ihm sogleich zugestimmt und behauptet, er kenne von früheren Besuchen eine saubere und nicht zu teure Herberge. Der Wirt sei ein Freund von ihm und absolut zuverlässig. Da mir die Stadt Haifa fremd war, entschloss ich mich, den beiden zu folgen, vielmehr, ich ließ mich wohl oder übel rechts und links unterhaken und davonführen.«
»Das war sehr leichtsinnig«, meinte Uthman. »In einer fremden Stadt sollte man niemandem vertrauen.«
»Da kann ich dir nur zustimmen«, pflichtete Henri ihm bei. »Heute weiß ich das auch. Aber damals blieb mir eigentlich gar keine andere Wahl. Wir tauchten in ein Gassengewirr ein, wie ich es bisher noch niemals gesehen hatte. Louis wies auf Schutt- und Trümmerberge, die von früheren Kämpfen herrühren sollten. Ihm entschlüpfte eine Bemerkung, die mich stutzig machte. Zweimal hätten nämlich meine Kreuzritter Haifa erobert und zerstört. Wieso ›meine‹ Kreuzritter? Gehörte nicht auch er zu diesem Orden?
Als die Gassen immer enger wurden, sodass nur noch ein winziger Strahl des Sonnenlichts zwischen den Häusern durchdringen konnte, erkundigte ich mich, wie weit es denn noch bis zu der Herberge sei. Aber die beiden gaben keine Antwort und beschleunigten ihren Schritt, sodass ich kaum folgen konnte. Am Ende einer finsteren Gasse entschwanden sie plötzlich meinem Blickfeld.
Ich hatte mir nicht merken können, woher wir gekommen waren, und ich wusste noch weniger, wohin ich mich wenden sollte. Unschlüssig blieb ich vor einem alten Gemäuer stehen.«
Uthman schüttelte den Kopf. »Du hättest losrennen sollen, egal wohin.«
Henri sah in den blauen Himmel und auf die Möwen, die laut schreiend ihre Kreise zogen und ins Meer stürzten, um mit einem Fisch im Schnabel wieder aufzutauchen. »Schon damals war es nicht meine Art, kopflos in irgendeine Richtung zu laufen. Ich versuchte herauszufinden, wo die Sonne stand. Denn ich wusste, dass wir in Richtung Osten gegangen waren. So hätte ich auch den Hafen wieder finden können.«
»Manchmal«, gab Uthman seine Erfahrungen zum Besten, »ist es angebracht, seinen Verstand nicht einzusetzen. Dazu ist später immer noch Gelegenheit, wenn man der Gefahr entronnen ist.«
»Vom sicheren Ort kann man gut raten«, antwortete ihm Henri unzweideutig. »Ich war ihnen in die Falle gegangen. Das sollte ich bald erfahren. Nicht etwa mein Reisegefährte und dessen zwielichtiger Freund versperrten mir den Weg nach vorn und zurück, sondern fremde Kerle, deren Aussehen nichts Gutes verhieß. Das Letzte, was ich verspürte, war ein kräftiger Schlag auf meinen Kopf.
Ich kam wieder zu mir, weil mir irgendjemand eiskaltes Wasser über Gesicht und Körper schüttete. ›Der Tempelritter kommt wieder zu sich!‹, rief eine fremde Stimme, die von weit her zu kommen schien. Mehrere finster dreinblickende Gestalten beugten sich über mich. ›Zerrt ihn hoch!‹, befahl die fremde Stimme. Ich konnte nicht erkennen, zu wem sie gehörte. Denn in meinem Kopf dröhnte ein unsichtbarer Hammer, und meine Augen ließen sich nicht öffnen. Außer der fremden Stimme mussten noch mehrere andere Männer anwesend sein. Denn man richtete mich auf und band meine Hände mit einer eisernen Kette an einen Ring in der Wand, damit ich nicht zusammensacken konnte.
›Weißt du, wo du hier bist?‹, schrie einer der Männer. Ich schüttelte stumm den Kopf. ›In Akkon, am südlichen Ende der Haifabucht. Du musst doch wissen, was Akkon für euch Kreuzfahrer bedeutete. Sieh dir die Mauern hier an! Man nennt dieses Gemäuer Burj es Sultan.‹ Jetzt wurde mir klar, wohin man mich verschleppt hatte, nämlich in den Kerker des Kreuzfahrer-Wachturms im damaligen venezianischen Viertel.«
»Da hatte es dich aber übel erwischt«, bedauerte Uthman seinen Freund. »Aber warum hatte man dich mit Gewalt dorthin entführt?«
»Das habe ich zunächst auch nicht verstanden. Aber nachdem sie mir immer wieder eiskaltes Wasser über Gesicht und Körper geschüttet hatten, klärte sich allmählich mein Erinnerungsvermögen. Die Kerle, die mich hierhin verschleppt hatten, mussten Spießgesellen von Louis sein, wahrscheinlich Mamelucken, mit denen ich schon in Akkon unangenehme Bekanntschaft gemacht hatte. Ich nehme an, dass sie Rache nehmen wollten. Denn sie hatten damals bei dem Sturm auf unser Ordenshaus viele Verluste erlitten, als die Mauern über uns alle zusammenbrachen. Jeder Tempelritter, der damals entkommen war, erregte ihren Zorn.«
»Welch eine unsinnige Tat, einen einzelnen Tempelritter büßen zu lassen!«, rief Uthman fassungslos.
Henri blieb gelassen. »Es war nicht das allein, sondern es hing auch mit dem ägyptischen Sultan Baibars zusammen, der für alle Mamelucken ein Idol war. Eigentlich war er ja ein türkischer Tscherkesse und ehemals wie alle Mamelucken ein Sklave gewesen. Sie waren von den Aijubiden als Militärsklaven gekauft worden. Als sie die bis dahin unbesiegbaren Mongolen in Palästina aufhielten, erkannte man ihre soldatischen Talente. Sultan Baibars war es, der die faktische Machtergreifung dieser Lohnsklaven in Ägypten und Syrien bekannt gab.«
»Aber was hatte das alles mit dir zu tun?«, fragte Uthman.
»Versuche einmal, dich in die Mentalität dieser Mamelucken zu versetzen! Dann wirst du vieles besser verstehen! Sultan Baibars steht bei uns in denkbar schlechtem Ruf. Man sagt, dass er durch Hinterlist und Verrat die eigentlich uneinnehmbaren lateinischen Festungen in seine Gewalt brachte. Er hatte sogar nicht davor zurückgeschreckt, Sendschreiben des Grafen von Tripolis zu fälschen.«
»An seinem Siegeszug wart auch ihr selbst wohl nicht ganz unschuldig«, wandte Uthman ein. »Bei uns Arabern behauptete man, dass auch Rivalitäten, Streitigkeiten und Intrigen zu eurem Untergang geführt hätten.«
»Das sollte man nicht verallgemeinern«, verteidigte Henri den Orden. »Ich führe zu unserer Entlastung die Einnahme der Kreuzfahrer-Burg Safed an. Obwohl sie von Rammböcken schon schwer beschädigt war, hielt die Burg allen Angriffen stand. Nur durch falsche Versprechungen des Sultans Baibars ergab sich schließlich die Besatzung. Entgegen seiner Zusicherung ließ er dann unsere Krieger grausam foltern und niedermetzeln. Allerdings hatte auch der Verrat unserer Templer-Unterhändler mitgewirkt. Man behauptet es jedenfalls von einem Casalarius mit Namen Leo, der als Aufseher unserer Templer-Landgüter das Vertrauen des Ordens missbraucht hat.«
»Das sagte ich ja«, triumphierte Uthman. »Ob nun durch Verrat oder militärische Übermacht. Dieser Baibars nahm hintereinander alle Städte ein, die unter der Herrschaft der Kreuzritter standen, und schließlich sogar Jerusalem, die Heilige Stadt.«