»Von solchen Totenbeschwörungen habe ich in Cordoba auch gehört«, bestätigte Uthman diese Schauermärchen. »Ich habe gelesen, dass es in Endor eine Hexe gegeben haben sollte, die von Talut, dem ersten König Israels, besucht wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein König, der von Allah erwählt wurde, so gefehlt haben sollte. Was weißt du davon?«
»Nun, diese Geschichte steht in der Bibel, im ersten Buch des Propheten Samuel«, erklärte Henri. »Wir nennen diesen König Saul. Er hatte zuvor auf den Wunsch Gottes alle Magie und die schwarzen Künste verboten. Dann bedrohten mächtige Feinde, die Philister, ihn und sein Land. Er war voll Furcht und hoffte Rat bei dem Propheten Samuel, der aber schon gestorben war. Darum ging er verkleidet nach Endor. Auf Sauls Wunsch holte die Hexe Samuel aus dem Totenreich herauf. Der fühlte sich gestört und sagte dem König von Israel in seinem Kampf gegen die Philister eine Niederlage voraus. So geschah es dann auch.«
»Das kommt davon, wenn man an Geister und Hexen glaubt«, meinte Uthman schadenfroh. Er wusste, dass Gott in der Sure von der Morgendämmerung, der Sure Al-Falaq, das Zaubern und Wahrsagen verboten hatte. Sprich: ›Ich nehme meine Zuflucht beim Herrn der Morgendämmerung vor dem Übel dessen, was Er erschaffen, und vor dem Übel der Nacht, wenn sie sich verbreitet, und vor dem Übel derer, die auf die Knoten blasen, und vor dem Übel des Neiders, wenn er neidet.‹ Die auf die Knoten blasen, das waren die Hexen von Mekka, die vor der herrlichen Ankunft des Propheten noch ihre böse Tätigkeit ausgeübt hatten.
»Aber es gab ja auch die so genannten haruspices«, führte Henri weiter aus, »die Vogelschauer, die aus dem Flug der Vögel etwas herauslesen konnten. Das halte ich für möglich, wenn man die Jahreszeiten in Betracht zieht. Vielleicht ist diese Kunst eher Wissenschaft denn Magie. Der berühmte römische Redner Cicero soll allerdings gesagt haben, er wundere sich, dass die haruspices nicht lachen müssen, wenn einer dem anderen begegnet.«
»Na, dann beweise einmal deine wissenschaftliche Kunst«, forderte Uthman seinen Gefährten auf. »Dort drüben ist an der Küste von Ibiza soeben ein Vogelschwarm zu sehen.«
»Diese Vögel sind jedenfalls keine Möwen. Ich möchte mich da nicht festlegen, aber es könnten Felsentauben sein, die hier in den Höhlen günstige Nistplätze finden. Wenn wir näher herankommen, könnte ich auch feststellen, ob es sich um einen Schwarm der hiesigen Vogelart handelt, die man Fichtenkreuzschnabel nennt. Denn diese Vögel können sich durch ihren gekreuzten Schnabel nur von Nadelbaumsamen ernähren.«
»Was, mein gelehrter Freund, entnimmst du nun daraus?«
»Es deutet alles darauf hin, dass wir uns in der Nähe der Pityusen befinden. Schon der Name deutet auf zahlreiche Nadelbäume hin.«
»Gibt es eigentlich irgendetwas, das du nicht weißt?«, fragte Uthman voller Bewunderung.
»Ja, ich weiß zum Beispiel nicht, ob wir den nächsten Tag lebend überstehen.«
»Das hätte dir, bei allem Abscheu, den ich gegen Hexen und Geister verspüre, die Zauberin von Endor sicher beantworten können!«
Valentino nannte sich zwar Hauptmann. Aber er hatte in keiner Weise die Befehlsmacht, wie sie Ernesto di Vidalcosta für sich beansprucht hatte. Seine Mannen wussten auch ohne sein Eingreifen, was sie zu tun hatten. Der Mann am Steuerruder war ein Meister seines Fachs. Geschickt manövrierte er die Schaluppe an den Riffen vorbei und steuerte auf eine von Pinien gesäumte Bucht zu. Zur rechten Zeit zogen einige der Männer die Segel ein, um damit die Geschwindigkeit zu verringern. Auch ohne Navigation erkannte Valentino die Tiefe und ließ den Anker an einer seichten Stelle fallen, ohne das Schiff auf Sand zu setzen. Damit erleichterte er den Piraten das Ausladen der Kisten.
»Welch ein begnadeter Seemann«, äußerte Henri seine Bewunderung. »Schade, dass er ein Pirat ist!«
Keiner der Piraten jubelte über die geglückte Landung. Man merkte, dass sie die Aktion nicht zum ersten Mal an der Bucht dieser Insel durchgeführt hatten. Die Männer sprangen ins Wasser, ohne eine tiefe Stelle zu befürchten, an der sie vielleicht ertrinken konnten. Seeleute, das wusste Henri, lernten nie schwimmen – das würde bei einem Schiffbruch nur ihre Qual verlängern, falls keine Hilfe kam. Henri hatte schon früh schwimmen gelernt, wenn er auch selten dazu kam.
Valentino folgte seinen Männern und ließ sich von dem zurückgebliebenen Rudergänger die Kisten reichen.
»Worauf wartet Ihr noch?«, rief er Henri und Uthman ungeduldig zu. »Bildet Ihr Euch etwa ein, dass meine Leute Euch auf den Schultern durch das Wasser tragen?«
Uthman ließ sich so etwas nicht zweimal sagen. Er sprang über Bord und landete hart neben Valentino, sodass die Wellen hoch aufspritzten und Valentino eine der Kisten entglitt. Möglichst schnell strebte er aber danach dem Ufer zu, während Valentino hinter ihm fluchte. Um den Zorn des Seeräuberhauptmanns nicht noch mehr zu reizen, hielt sich Henri beim Sprung außer dessen Reichweite.
Vielleicht hätte Valentino ihnen Bewegungsfreiheit zugestanden. Aber er musste seinem Zorn Luft machen und ließ sich ein Seil bringen, um Henri und Uthman eigenhändig an einer Pinie festzubinden. »Verflucht!«, murmelte Uthman. »Mir rieseln die Nadeln hinter den Kragen meines Gewandes.«
»Das hättest du uns ersparen können«, sagte Henri vorwurfsvoll. »Warum kannst du deinen Übermut nicht bändigen und musstest Valentino fast auf den Kopf springen, sodass ihm eine seiner kostbaren Kisten aus den Händen glitt!«
Die gebundenen Hände ließen nicht zu, dass Uthman seinen Rücken erreichte, um sich zu kratzen. Valentino, der diese Bewegung beobachtete, trat auf ihn zu. »Hast du schon einmal vom Fuoco di San Antonio gehört?
Nicht? Dann wirst du es bald spüren. Die Nadeln, die dir so zu schaffen machen, werden von Raupen verursacht, die auf den Bäumen die Nadeln winzig klein zerbeißen. Wer länger diesen Nadeln ausgesetzt ist, wird nicht nur von einem schrecklichen Juckreiz befallen, sondern auch von heftigem Fieber. Glaube mir, du Schweinehund, das ist schlimmer als eine Tracht Prügel.«
Henri sah, dass Uthman kurz davor war, dem Piratenhauptmann ins Gesicht zu spucken. Weil das unabsehbare Folgen gehabt hätte, sagte Henri ziemlich scharf: »Mäßige dich!« Uthman schwieg und begnügte sich mit giftigen Blicken, als Valentino sich entfernte.
Einige Piraten verschwanden mit den Kisten im Gestrüpp der Insel. Wahrscheinlich gab es irgendwo eine versteckte Höhle, in der sie ihr Beutegut bis zur Verteilung verstauten. Sie blieben ziemlich lange aus. Inzwischen hatten diejenigen, die zurückgeblieben waren, dürres Holz gesammelt und ein Feuer angezündet, das sie niedrig hielten, um nicht von der See aus entdeckt zu werden.
Das lange Ausbleiben klärte sich, als die Seeräuber am Feuer erschienen. Sie brachten Wildkaninchen und sogar einen Rehbock, auch einen Fuchs mit, den sie jetzt aus einer Falle lösten. Schon bald verbreitete sich ein verführerischer Duft nach gebratenem Fleisch. Die Piraten versammelten sich um das Feuer, verzehrten mit lautem Geräusch riesige Fleischbrocken und ließen einen Becher mit Wein kreisen. Der Schiffsjunge fragte, ob man den Gefangenen nicht auch etwas zu essen geben solle. Aber Valentino schüttelte den Kopf und warf Uthman einen abgenagten Knochen ins Gesicht.