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Gegen Mitternacht war auch der letzte Seeräuber trunken zur Seite gefallen. »Jetzt müssten wir versuchen, uns zu befreien«, schlug Henri vor. Aber er bekam keine Antwort. Als er, verwundert über die seltene Schweigsamkeit seines Gefährten, sich Uthman zuwandte, bemerkte er mit Schrecken, dass Uthman vom Fuoco di San Antonio übermannt worden war. Denn der Freund zitterte am ganzen Leib, sein Kopf schlug hin und her, und er stöhnte laut im Fieberwahn.

Ohne dass Henri eine nahende Gestalt bemerkt hätte, war Brunella zwischen den Baumstämmen aufgetaucht. Sie stellte einen kleinen Blecheimer ab, in dem Henri eine grünliche Masse erkannte. Wortlos begann sie, Uthmans Fesseln zu lösen. Er sank augenblicklich kraftlos zu Boden. Das Mädchen entkleidete ihn, ohne Scham zu zeigen, und bestrich mit zarten Bewegungen den ganzen Körper mit einer zähflüssigen Salbe. »Wir hatten einen Gefangenen, der sich auf die Zubereitung von Heilsalben verstand. Als einer von uns vom Fuoco di San Antonio befallen wurde, ging er in den Wald und kehrte mit allerlei Kräutern und Baumrinden zurück. Er erlaubte uns nicht, bei der Herstellung der Salbe anwesend zu sein. Später erfuhren wir, dass dieser Mann ein berühmter Alchemist war, und wir schenkten ihm die Freiheit. Der Kranke war nämlich nach der Einreibung mit dieser Salbe am nächsten Tag wieder gesund. Aber wir alle hüten uns vor dem Befall des Raupenkots. Diese Viecher geben nämlich die von ihnen gefressenen Nadeln durch den After wieder von sich.«

»Kannst du mir vorsorglich auch etwas von dieser wundertätigen Salbe geben?«, bat Henri.

»Dann zieh dich aus!«, erwiderte sie und löste seine Fesseln. Henri schaute während der ungewohnten Berührung in das Geäst des Baumes. Sie lachte ihn aus und griff zum Seil. »Ich muss euch leider wieder fesseln, damit Valentino keinen Verdacht schöpft. Aber ich werde es mit aller Vorsicht tun.«

Ehe Henri sich bedanken konnte, war sie wieder zwischen den Stämmen der Bäume verschwunden.

Am nächsten Tag fühlte sich Uthman zwar wieder gesund, aber noch etwas geschwächt. Er wusste nicht, was mit ihm geschehen war. »Die Kerle sollten uns etwas zu essen geben«, sagte er. »Ich fühle mich ziemlich kraftlos.« Henri verzichtete darauf, seinem Gefährten von den nächtlichen Ereignissen zu berichten. Er wies zu dem erkalteten Lagerfeuer, das der Schiffsjunge wieder zum Lodern brachte. Ein Duft nach Eichelkaffee entstieg einem großen Eisentopf.

Nach und nach fanden sich die Seeräuber ein, schlürften den Kaffee und unterhielten sich laut und angeregt. Es ging um einen neuen Beutezug. Das hatten Henri und Uthman bald verstanden. Was soll dann aus uns werden?, dachte Henri sorgenvoll. Als Brunella am Feuer auftauchte, schöpfte er eine gewisse Hoffnung, dass sie ihnen eine Rettung ermöglichen würde. Ihr Ton klang ziemlich herrisch. »Binde die Gefangenen los!«, forderte sie von Valentino. »Sie sollen an unserem Gespräch teilnehmen, damit sie ihr künftiges Schicksal erfahren.« Valentino gab ihrer Forderung nach, ging zu den Kiefernstämmen und löste die Fesseln. Im Vorbeigehen hatte er allerdings Brunella eine kräftige Kopfnuss verpasst.

Er war erstaunt, die beiden bei zufrieden stellender Gesundheit anzutreffen, und warf Brunella argwöhnische Blicke zu. »Trinkt von dem Kaffee!«, fuhr er Henri und Uthman unfreundlich an. »Denn das wird für lange Zeit die letzte Möglichkeit zum Trinken sein. Wir werden nämlich noch heute diese Insel verlassen, und zwar ohne euch.«

Henri und Uthman schwiegen und warteten ab, welches Schicksal er ihnen zugedacht hatte. Das sollten sie allzu bald erfahren. »Auf dieser Insel gibt es mehrere Höhlen. Wir werden euch in einer von diesen einschließen, die mit einer Eisentür gesichert ist. Aber es gibt eine unsichtbare Luftzufuhr, sodass ihr nicht ersticken werdet. Das ist eine Erleichterung eurer Gefangenschaft. Wenn ihr nicht schreit und dadurch zu viel Luft verbraucht, werdet ihr bei unserer Rückkehr noch am Leben sein.«

Er gab vier Männern einen Wink, ihm mit den Gefangenen zu folgen. Uthman warf Brunella einen bitterbösen Blick zu, weil sie schweigend zu Boden schaute. Er wusste ja nichts von der nächtlichen Rettungsaktion.

Valentino schritt voran, und die vier Männer folgten mit Henri und Uthman, die sich kräftig zur Wehr setzten, bis die Männer ihnen mit Knüppeln über den Kopf schlugen. Jetzt wurden sie mehr vorwärtsgeschleppt, als dass sie selbst gegangen wären. Dennoch versuchte Henri, sich den Weg zu merken, der aus dem Wald zur Küste zurückführen konnte.

Die eiserne Tür zur Höhle stand offen. Valentin zog einen unförmigen, schon rostigen Schlüssel aus der Hose und gab den beiden einen kräftigen Stoß, der sie über mehrere Stufen in die Dunkelheit hinabbeförderte. »Hasta la vista!«, rief er höhnisch und ließ die schwere Tür donnernd zufallen. Der Schlüssel drehte sich knarrend im Schloss, und die Schritte der Männer entfernten sich.

»Was nun?«, fragte Uthman ratlos und ließ sich stöhnend auf dem feuchten Erdboden nieder. Er fühlte sich immer noch schwach.

»Ich muss nachdenken«, erwiderte Henri. »Einen Ausweg gibt es immer und überall.«

Die Höhle roch nach Moder. Es war finster, nur ein schwacher Lichtschein fiel durch das Luftloch, von dem Valentino gesprochen hatte.

»Steh auf«, wandte sich Henri an Uthman, »und forme deine Hände zu einer Mulde, in die ich hineinsteigen kann, um auf deine Schulter zu klettern. Ich möchte die Decke der Höhle untersuchen.«

Aber das Unternehmen war vergebens. Einige Lehmbrocken fielen auf ihn herab, ein paar Steine lösten sich und polterten zu Boden, doch eine Öffnung war nicht zu finden.

»Wir müssen uns vorsichtig in das Innere der Höhle tasten«, schlug Henri vor, »aber nur Schritt für Schritt. Es könnte sein, dass sich plötzlich ein Abgrund auftut. Vielleicht hat Valentino sogar damit gerechnet, dass wir abstürzen und uns das Genick brechen.«

»Damit könntest du Recht haben«, pflichtete ihm Uthman bei. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die neue Umgebung. Der Sarazene deutete auf etwas, das einem Haufen gebleichter Knochen glich. »Wenn mich das Dämmerlicht nicht täuscht, sind das da Skelette, und es hängt keine Spur mehr von Fleisch an ihnen.«

Henri überlegte, wie er dem geschwächten Freund Hoffnung machen könnte. Er hielt es für das Beste, von der nächtlichen Krankenpflege durch Brunella zu erzählen. Sofort erwachte in Uthman seine alte Tatkraft. »Wenn sie uns einmal geholfen hat, dann wird sie das auch wieder tun. Wer besitzt den Schlüssel zu dieser Eisentür?«

»Valentino persönlich. Nicht einmal Brunella wird es fertig bringen, ihm den Schlüssel zu entwenden. Es wird für sie auch nicht leicht sein, vor dem Absegeln Zeit zu finden, um von den anderen unbemerkt hier aufzutauchen.«

»Wir warten hier vor der Tür, bis es völlig dunkel ist. Falls Brunella bis dahin nicht gekommen sein wird, können wir die Hoffnung auf ihr Erscheinen aufgeben.«

Ihr Entschluss, auf Brunella zu warten, sollte sich als richtig erweisen. Noch ehe die Nacht das versteckte Luftloch verfinstert hatte, hörten sie leise Schritte im Laub rascheln. Vor der Tür wisperte eine Stimme, die nur Brunella gehören konnte.

»Hast du den Schlüssel?«, rief Uthman hoffnungsvoll. »Dann mache uns auf, damit wir flüchten können!«

»Leider nein«, wisperte wieder die Stimme. »Aber hört mir jetzt gut zu. Ich verrate euch eine Möglichkeit, wo sich euch ein Fluchtweg aus dieser Höhle eröffnet. In ihrem hintersten Teil befindet sich eine Quelle. Manchmal, vor allem in Regenzeiten, weitet sie sich zu einem kleinen See. Oft füllt sich dann dieser See bis zu den Höhlenwänden, sodass man ihn durchschwimmen muss. Ich hoffe, dass ihr diese Kunst beherrscht. Auf der anderen Seite geht es ein paar Stufen aufwärts, und oben befindet sich eine kleine Plattform, deren Boden durch die ständige Feuchtigkeit sehr schlüpfrig ist. Hütet euch vor einem Ausrutschen, sonst stürzt ihr in den Tod. Von dieser Plattform aus müsst ihr euch abstemmen, um die Öffnung über euch zu erreichen. Wenn euch das gelungen ist, befindet ihr euch im Wald auf der anderen Seite der Insel. Dort kommen manchmal Frachtschiffe vorbei, die euch vielleicht mitnehmen werden.«