Henri wusste, dass der schwierigste Teil der Wegstrecke überstanden war. Er ging voraus und wartete auf dem kleinen Platz, über dem sich verheißungsvoll eine Öffnung zeigte. Weit oben ließen sich die herabhängenden Äste eines Baumes erkennen.
Henri hatte seinen Ärger über Uthmans unangebrachte Späße noch nicht ganz überwunden. »Jetzt zeige deine Kletterkünste! Oder muss ich dich gar heraufziehen?«
Uthman nahm diese Bemerkung nicht übel. Er bereute schon, dass er seinen Freund verärgert hatte. In der gebirgigen Umgebung von Haleb hatte er schon so manchen Felsen bestiegen. Er grätschte die Beine, suchte Halt für die Füße und schob sich geschickt aufwärts zur Öffnung. Oben angelangt brach er in laute Begeisterungsrufe aus. »Komm herauf, Henri! Für freie Menschen ist diese Insel ein Paradies.«
Henri erreichte nicht weniger schnell das Tageslicht als Uthman. Nach der Dunkelheit in der Höhle blendete ihn für einen Augenblick die strahlende Sonne. Dann aber sah er unterhalb des bewaldeten Hügels das geschwungene Ufer und den weißen Sand der Insel. Er hatte schon immer ein Gefühl des Wiedererkennens für Orte gehabt, an denen er einmal gewesen war. Langsam ließ er den Blick über die Bucht schweifen, schloss die Augen, um den besonderen Geruch der Wälder zu spüren, und da wusste er es. Sie befanden sich auf der Westseite jener Insel, auf der sie damals mit der Kogge gestrandet waren. Die Erinnerung an die abenteuerliche Seefahrt und an den Tod des Kapitäns Ernesto di Vidalcosta wurde übermächtig.
»Erkennst du denn nicht, wo wir hier sind?«, wandte er sich an Uthman, der den Kopf schüttelte.
»Warum fragst du mich? Wir sind auf den Pityusen, und ich hoffe, dass durch die Nähe zu Ibiza hier ab und zu Schiffe vorbeikommen, die nichts mit Piraten zu tun haben.«
»Vielleicht müssen wir aber sehr lange warten«, dämpfte Henri die Zuversicht seines Gefährten. »Wir sind nämlich auf genau jener Insel, auf der wir damals mit der Kogge strandeten!«
Uthman wirkte ziemlich verdutzt. »Ich nehme jetzt ein Bad im Meer, um die Dreckspuren der Höhle abzuwaschen. Danach werde ich Holz sammeln, um Rauchzeichen zu geben.«
»Ob wir ein Feuer anzünden, sollten wir uns vorher gut überlegen«, gab Henri zu bedenken. »Ich möchte nicht wieder auf einem Piratenschiff landen. Wir müssen also die Schiffe sehr nahe an die Insel herankommen lassen, damit wir ihr Herkunftsland erkennen können.«
»Ach, Henri«, seufzte Uthman. »Wenn ich doch irgendwann einmal so klug und vernünftig werden könnte wie du.«
»Was steht denn im Koran über die Rückkehr der Ashabu’l Kahf?«, fragte Henri, um Uthman zu erfreuen. »Vielleicht kann uns das in unserer Lage helfen.«
Uthman ließ sich nicht lange bitten. »Ein Sprecher fragte: Wie lange habt ihr verweilt? Die Jünglinge sagten: Einen Tag oder einen Teil von einem Tag. Die anderen sagten: Euer Herr weiß besser, wie lange ihr verweilt habt Schickt einen von euch mit euren Silbermünzen in die Stadt. Er soll sehen, welche ihrer Speisen am reinsten sind, und euch davon Versorgung bringen. Aber er soll behutsam sein und niemandem etwas von euch merken lassen. Denn wenn sie von euch erfahren, werden sie euch steinigen und zur Rückkehr zwingen; dann wird es euch nie mehr wohl ergehen. Genau so steht die Geschichte in der Sure von der Höhle.«
»Damit können wir durchaus etwas anfangen«, meinte Henri. »Wir werden die wild wachsenden Pflanzen prüfen, ehe wir etwas von ihnen zu uns nehmen. Außerdem werden wir uns auch nicht zu irgendeinem Bestimmungsort zwingen lassen, sondern dafür sorgen, dass man uns in Mallorca oder Menorca gegen eine ausreichende Bezahlung absetzt. Auch der Hinweis, dass wir uns nicht zu erkennen geben sollen, ist sehr wichtig. Wenn sie uns auch nicht gleich steinigen, so werden wir doch als Königsmörder bestraft. Nun hast du sicher bemerkt, dass man aus jeder Geschichte eine Lehre ziehen kann.«
»Natürlich«, bestätigte Uthman, »aus der heiligen Schrift kann man immer eine Lehre ziehen!«
»Du wirst sehen, dass wir bald schon hier fort sind!«
»Sage lieber: Wenn Gott will!«, wies ihn Uthman zurecht. »Weißt du, was Allah in der Sure von der Höhle seinen Zuhörern sagt? Dass die Zukunft ganz in seiner Hand liegt: ›Sprich nie von einer Sache: Ich werde es morgen tun, es sei denn: So Allah will. Und gedenke deines Herrn, wenn du es vergessen hast, und sprich: Ich hoffe, mein Herr wird mich noch näher als dies zum rechten Wege führen.‹«
»Da hast Recht«, entgegnete Henri. »Wir werden von dieser Insel fortkommen, so Gott will!«
Sie warteten zwei Tage vergeblich auf ein vorbeiziehendes Schiff. Der Horizont blieb leer. Schließlich erwogen sie, noch einen dritten Tag zu warten, um es dann doch mit Rauchzeichen zu versuchen. Uthman bestand darauf, einen Holzstoß anzulegen, damit er bei Bedarf möglichst schnell ein Feuer entfachen könne. Beide sahen die Gefahr, dass der Beutezug der Piraten vielleicht erfolglos geblieben war und Valentino allzu bald zurückkehren würde. Ihre Augen tränten von dem stundenlangen Blick auf das glitzernde Meer. Aber es war kein Schiff zu sehen. Sie ließen sich im Schatten einer breit gefächerten Schirmpinie nieder.
»Schlafen sollten wir besser nicht«, überlegte Uthman. »Aber wie wäre es, wenn du weiter über deine Erlebnisse im Heiligen Land berichten würdest?«
Henri erklärte sich sofort einverstanden. Es war besser, sich die Zeit zu vertreiben, als von der Gefahr überrascht zu werden. »Der Pilgerzug schleppte sich langsam voran«, begann er, »bis Nadjm Ghazi die Geduld verlor. Er schickte seine Reiter voraus, die mit Stöcken, Peitschen und den flachen Klingen ihrer Schwerter dem Emir rücksichtslos den Weg frei machten. Sie kümmerten sich nicht darum, dass einige dieser frommen Leute in ein Gebet vertieft waren oder ein älterer Mensch nur noch sehr langsam den Marsch bewältigen konnte. Wer einen Protest oder einen empörten Zuruf wagte, bekam die Peitsche zu spüren.
Von da ab bewegte sich unser Zug schneller vorwärts. Ich weiß nicht, wie viele Tage wir unterwegs waren und wie oft wir für die Nacht unsere Zelte aufbauten. Der Weg wurde immer beschwerlicher, weil sich der kurvenreiche Pfad durch eine felsige Gegend schlängelte. Mein Begleiter hatte auch keine Lust mehr zu sprechen und ritt halb schlafend mit baumelndem Kopf neben mir her.
Aber an einem heißen Sonnentag wachte er plötzlich auf, als habe er soeben ein erfrischendes Bad genommen. ›Vor uns liegt Hajia, und oben auf dem Felsen lässt sich im Dunst der Wolken der Palast des Emirs erkennen. Wir sind an unserem Ziel angelangt.‹ Unter den Reitern erhob sich ein allgemeiner Jubel. Jeder wusste, dass der Emir nun Fleisch, Fladenbrot und Getränke verteilen lassen würde. So schnell hatte man noch nie die Zelte aufgebaut und ein Lagerfeuer entzündet.
Es entsprach der Wahrheit, was man mir über die festungsähnliche Burg des Emirs erzählt hatte. Die Zinnen ragten bis in die Wolken. Ich empfand das als Anmaßung. Bei uns Christen ist es nur den Kirchenbaumeistern gestattet, die Türme bis zu solcher Höhe zu bauen. Auf dem Reitpfad, der zu dem Portal der Burg führte, erschien eine Abordnung prächtig gekleideter Würdenträger. Sie warfen sich vor dem Zelt des Emirs auf die Knie und warteten, bis Nadjm Ghazi erschien, übrigens ohne die Qayna. Die Würdenträger huldigten ihm, als ob er Papst oder Kaiser sei.
Weil er die Hofbeamten so lange im Staub des Zeltplatzes warten ließ, hatte ich die Möglichkeit, mich näher heranzupirschen. Ich hätte sie auch nach Jahren immer und überall erkannt: die falschen Zeugen, die meinen Bündnisbruder Abu Hassan angeklagt und in den Kerker verschleppt hatten. Vorsichtig trat ich meinen Rückweg an, damit mich nur ja niemand von ihnen wieder erkennen konnte. Nun galt es, reiflich zu überlegen, wie ich vorgehen musste, um Abu Hassan zu befreien, ohne selbst den Tod zu finden.
Ich beobachtete, dass Stallknechte aus der Burg dem Emir zwei frische Pferde brachten. Jetzt endlich kam auch die Qayna zum Vorschein, die von Nadjm Ghazi persönlich in den Sattel gehoben wurde. Ich bemitleidete den armen Burschen, der das Pferd am Zügel führen musste. Sicher hatte sie an jedem einzelnen Schritt etwas auszusetzen. Der würdevolle Zug bewegte sich langsam auf dem steilen Pfad der Burg zu, deren Eingang tatsächlich in den Wolken lag. Das könnte ein Vorteil sein, sagte ich mir, ehe ich mich zum Lagerfeuer begab, wo mein Reisegefährte Mahmud aus Mardin mit Fladenbrot und gebratenem Hammelfleisch auf mich wartete.