»Wie könnt ihr denn erkennen«, fragte Henri, »ob es sich um das Schiff ihres Liebhabers handelt? Es könnte ja dieses Schiff da sein!« Er fröstelte, weil eine Böe ihn kühl streifte. Verblüfft sah er im Halbdunkel, dass der Abstand zu den Verfolgern beträchtlich größer geworden war. Fast schon war das Kriegsschiff nicht mehr zu sehen.
»Der Pirat Valentino da Pisa ist nicht nur eitel, sondern auch auf seine Sicherheit bedacht. Je neuer der Schiffstyp, umso reichere Beute lässt sich machen. Das ist bei den Piraten inzwischen eine Binsenweisheit. Valentino hat sich darum eine Schaluppe bauen lassen, einen Typ, den es noch nicht lange gibt. Übrigens mit dem Gold, das die Tochter des Advokaten mitgebracht hatte. Keiner der Piraten hat es bisher zu einer solchen Schaluppe gebracht. Diese Schiffe sind außergewöhnlich wendig und haben nur einen geringen Tiefgang.«
Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Die Matrosen zogen die Segel ein und warfen einen Stockanker, der an einer schweren Eisenkette hing. Henri und Uthman holten sich ihre Essensration in der Kochkombüse und gingen damit zurück an Deck.
»Hier können wir ungestörter miteinander reden«, meinte Henri. »Ich glaube nämlich, dass wir mit unseren Verdächtigungen dem Kapitän Unrecht tun. Mit den Franzosen jedenfalls hat er nichts zu schaffen, vor denen hat er selbst Furcht, und nicht uns will er statt einer Ware den Piraten anbieten, sondern dieses Mädchen, dessen Vater sehr vermögend zu sein scheint.«
»Vielleicht gibt er uns noch als eine Dreingabe dazu«, sagte Uthman scherzhaft. Aber er hatte es nicht als Scherz gemeint.
Henri schaute in den umwölkten Sternenhimmel. »Die Nacht scheint ruhig zu werden. Da, warum auch immer, das Kriegsschiff uns nicht mehr folgt, werde ich dir, wenn du nicht zu müde bist, weiter von meinen Abenteuern in Jerusalem berichten.« Sie streckten sich auf den hölzernen Planken aus und legten sich eine Taurolle unter den Kopf.
»Damals hatte ich es nicht so bequem wie jetzt«, begann Henri seinen Bericht. »Sie lösten meine Ketten und stellten mich aufrecht in ein Erdloch. Einer ergriff den nun leeren Eimer und stülpte ihn mir über den Kopf. ›Wenn du nicht willst‹, sagte er, ›dass wir eine hungrige Ratte dazusetzen, die dir das Gesicht zerbeißt, dann rufe laut und deutlich: Ich tue alles, was ihr verlangt.‹ Du kannst dir denken, wie laut ich gerufen habe.«
Uthmans Stimme klang heiser vor Abscheu und Entsetzen. »Ich habe von dieser Foltermethode gehört. Bisher hat sie noch niemand überlebt.«
»Auch ich hatte mit meinem Leben abgeschlossen. Aber sie gaben mir noch eine Überlebenschance. ›Höre jetzt genau zu!‹, sagte der Mann mit dem Eimer. ›Ich erkläre dir nur einmal, was du zu tun hast.‹
›Nimm mir den Eimer vom Kopf!‹, rief ich von Furcht gepackt. ›Ich kann dich ja sonst nicht verstehen.‹
Er folgte meiner wirklich verzweifelten Aufforderung. Ich sah in mehrere grinsende Gesichter. Offenbar hielt er es für selbstverständlich, dass ich von dem berühmten Mamelucken-Sultan Baibars gehört hatte. Ich wusste, dass er im Jahre 1270 Jerusalem erobert hatte. Aber ich wusste nicht, dass er sieben Jahre darauf gestorben war. Der Mann mit dem Eimer schäumte vor Wut, als er mir berichtete, alle Mamelucken seien sich sicher, dass Baibars umgebracht worden sei.
Ich hatte keine Ahnung, wen sie verdächtigten. Gewundert hätte es mich ja nicht, weil Baibars selbst als Emir den damaligen Mamelucken-Sultan Qutuz umgebracht hatte. Ich war froh, dass man von mir keine Antwort erwartete. ›Es waren die verfluchten Ismailiten‹, schrie der Mann. ›Das sollen sie büßen!‹ Nun hatte ich zwar davon gehört, dass die ismailitische Lehre als häretisch galt, weil die Schiiten den Ali als einzig rechtmäßigen Kalifen betrachten und sie trotz ihres kriegerischen Charakters ganz eigene Wege zu eurem Allah suchen, die im Wesentlichen auf der Grundlage von Versenkung und Nachsinnen beruhen. Von Baibars wurde diese Lehre jedenfalls hartnäckig bekämpft. Nichts Geringeres forderten sie von mir, dass ich den Anführer der Ismailiten in Jerusalem ausfindig machen und ihnen ausliefern solle. Denn nach dem Mord an Sultan Baibars habe er sich nach Al-Qudz zurückgezogen.«
»Davon habe ich noch nie etwas gehört«, sagte Uthman.
»Mir schien das auch ein Hirngespinst zu sein. Aber ich musste auf die Wahnideen der Mamelucken eingehen. Darum sagte ich, dass auch wir Tempelritter die mystische Bedeutung von Zahlen und Buchstaben kennen würden. Auf diesem Umweg sei es mir wahrscheinlich möglich, in den inneren Geheimzirkel der Ismailiten einzudringen. Ich könnte dann den Anführer entführen und ihnen ausliefern. Der Mann mit dem Eimer lachte höhnisch. Das genau sei der Grund, warum ihre Wahl auf mich gefallen sei.
Ich konnte mir die fanatische Verehrung Baibars nicht so recht erklären. Nun gut, er hatte die Mosaiken an der Außenfassade des Felsendoms von Jerusalem erneuern lassen. Aber Sultan Qalawun, sein Nachfolger, hatte mindestens so viel, wenn nicht mehr für die Blüte Jerusalems getan. Diesen Eindruck gewann ich jedenfalls später.«
Uthman sah nachdenklich vor sich hin. »Baibars hat den mameluckischen Sklaven zur Freiheit verholfen, und das ist mehr als jedes architektonische Prachtwerk. Wann haben dich diese Wahnsinnigen denn freigelassen?«
»Kurz nachdem sie ihre Forderungen gestellt hatten, aber unter Drohungen, dass sie mich stets beobachten ließen, wohin ich mich auch wenden würde. Meine einzigen Gedanken richteten sich von nun an darauf, wie ich ihrer Verfolgung entkommen könnte. Zum Abschied gaben sie mir, um meinen Eifer anzustacheln, noch einmal die Peitsche zu schmecken. Auf allen vieren kroch ich die Treppe aus dem Verlies hinauf ins Freie.«
»Sicher war dir dieses schmerzhafte Erlebnis eine gute Lehre. Denn ich kenne dich gar nicht so leichtsinnig«, sagte Uthman.
Henri nickte zustimmend. »Von dieser Stunde an bin ich niemals mehr undurchschaubaren Vorschlägen gefolgt, die ich nicht sorgsam vorher geprüft habe. Ich hatte stets an das Gute im Menschen geglaubt. Aber ich musste mich leidvoll eines Besseren belehren lassen. Seit dieser Zeit habe ich auch ein untrügliches Gefühl für einen drohenden Hinterhalt entwickelt. Aber leider habe ich gleichzeitig die absolute Notwendigkeit abgelegt, stets und wo auch immer die zehn Gebote zu erfüllen, die Moses uns von unserem Herrn überbracht hat.«
»Das kann ich mir kaum vorstellen«, bezweifelte Uthman.
»Doch, als erstes missachtete ich das Gebot: Du sollst nicht stehlen! Draußen, hinter dem Wachturm, befand sich zwischen den Trümmern ein kleines Stück Grasland. Dort weideten die Pferde der Mamelucken. Wie sollte ich ohne Reittier nach Jerusalem kommen? Vielleicht per pedes apostolorum, wie wir Templer das scherzhaft nannten. Ich legte mich zunächst hinter einen Felsbrocken, teils, um mich notdürftig zu erholen, teils, um abzuwarten, ob einer der Mamelucken auftauchen würde. Aber niemand zeigte sich. Zu meiner Ausbildung bei den Templern gehörte auch die Fähigkeit, ohne Sattel und Zaumzeug zu reiten. Ich traf keine große Auswahl, sondern sprang auf den Rücken einer Stute, die mir am nächsten stand. Als ich davongaloppierte, spürte ich sogleich, dass zwischen dem Pferd und mir eine Beziehung bestand, die es mir leicht machen würde, Verfolger abzuschütteln und Jerusalem zu erreichen.«
»Not kennt kein Gebot«, deklamierte Uthman und billigte mit diesem Ausspruch den Diebstahl.
Sie hatten sich ein Lager an Deck bereitet, um den Sternenhimmel und den zunehmenden Halbmond zu betrachten, der sich silbern im bleischwarzen Meer spiegelte. Aber gegen zwei Uhr in der Nacht wachten sie von einem heftigen Knall auf. Ein Windstoß war in die Takelage gefahren und hatte das Segel wie einen offenen Sack aufgebläht. Weder der Mond noch die Sterne waren zu sehen – über ihnen wölbte sich ein undurchdringlich schwarzer Nachthimmel, der sich immer tiefer neigte, um sich dann wie ein riesiges Tuch über das Schiff zu breiten. In der Ferne zuckten grelle Blitze am Horizont, und das Grollen des Donners rückte von Mal zu Mal näher. Noch war kein Tropfen Regen gefallen, aber hohe Wellen rollten mit Getöse heran und spritzten ihre Gischt auf das Deck, das sich seitwärts geneigt hatte.