Robert Silverberg
Der Empath
Niemand wußte genau, wann Mr. Hallinan in New Brewster einzog. Lonny Dewitt, der es eigentlich hätte wissen müssen, bestätigte, daß M. Hallinan am 3. Dezember um 3.30 Uhr nachmittags starb, aber was den Tag seiner Ankunft betraf, konnte niemand eine genaue Angabe machen.
Es war einfach so, daß niemand in dem leeren Einfamilienhaus am Melonenhügel wohnte, und dann war er einfach da, bereit und willens, seine Freundlichkeit über die ganze Vorstadtgemeinschaft zu verbreiten.
Daisy Moncrieff, New Brewsters unermüdliche Gastgeberin, war die erste, die mit Mr. Hallinan Verbindung aufnahm. Vor zwei Tagen hatte sie in dem Haus am Melonenhügel Licht gesehen, und heute früh hatte sie beschlossen, sich die Neuankömmlinge näher anzusehen, um ihren Platz in der Gesellschaft von New Brewster zu bestimmen. Sie hüllte sich in einen leichten Schal — es war nämlich ein ziemlich kühler Oktobertag — verließ ihr Haus und begab sich zu Fuß die Copperbeech Straße bis zum Melonenhügel hinauf.
Der Name stand bereits auf dem Briefkasten: DAVIS HALLINAN. Das deutete darauf hin, daß die Neuankömmlinge doch schon längere Zeit hier wohnten, dachte Mrs. Moncrieff. Vielleicht waren sie sogar beleidigt, weil ihre Einladung erst so spät kam. Sie zuckte die Achseln und betätigte den Klopfer.
Ein hochgewachsener Mann in mittleren Jahren erschien und lächelte freundlich. So war Mrs. Moncrieff die erste Einwohnerin von New Brewster, die jener seltsamen Wärme teilhaftig wurde, die Davis Hallinan bis zu seinem seltsamen Tod in New Brewster ausstrahlte. Seine Augen waren groß, und ein warmes Licht glänzte in ihnen. Sein Haar war ergraut, und er trug es in einer langen gepflegten Mähne.
„Guten Morgen, ich bin Mrs. Moncrieff — Daisy Moncrieff, aus dem großen Haus unten an der Copperbeech Road. Sie müssen Mr. Hallinan sein. Darf ich hereinkommen?“
„Äh — bitte nicht, Mrs. Moncrieff. Hier sieht es noch chaotisch aus. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir auf der Terrasse bleiben?“
Er schloß die Tür hinter sich — später behauptete Mrs. Moncrieff, sie hätte das Innere des Hauses flüchtig gesehen und unbemalte Wände und staubbedeckte rohe Fußböden erblickt — und schob ihr einen rostigen Gartenstuhl zurecht.
„Ist Ihre Frau zu Hause, Mr. Hallinan?“
„Hier bin nur ich — ich bin alleinstehend.“
„Oh.“ Mrs. Moncrieff verstand es geschickt, mit einem Lächeln darüber hinwegzugehen, daß sie das höchst unpassend fand. In New Brewster war jedermann verheiratet. Allein der Gedanke, daß ein Junggeselle oder ein Witwer sich hier niederlassen könnte, war seltsam … aber eigentlich gar nicht unangenehm, fügte sie in Gedanken und über sich selbst überrascht hinzu.
„Der Zweck meines Kommens war, Sie für heute abend einzuladen, damit Sie ein paar von Ihren neuen Nachbarn kennenlernen — wenn Sie Zeit haben, heißt das. Ich gebe heute abend eine Cocktailparty, gegen sechs, und wir würden uns freuen, wenn Sie kommen würden.“
Seine Augen blitzten freundlich. „Aber natürlich, Mrs. Moncrieff. Ich freue mich jetzt schon darauf.“
Die „Hautevolee“ von New Brewster wartete schon kurz nach sechs voll Ungeduld im Hause der Moncrieff, aber es wurde beinahe 6.15 Uhr, bis Mr. Hallinan eintraf. Bis dahin war dank Daisy Moncrieffs Geschick als Gastgeberin schon jeder Anwesende mit etwas zu trinken und einer Anzahl Vermutungen über den geheimnisvollen Junggesellen am Berg versehen.
„Ich bin sicher, daß er ein Schriftsteller ist“, sagte Martha Weede zu Dudley Heyer. „Daisy sagt, er sei groß und gutaussehend und strahle geradezu Persönlichkeit aus. Vermutlich ist er nur für ein paar Monate hier — gerade lange genug, um uns alle kennen zu lernen, und dann wird er ein Buch über uns schreiben.“
„Hm, ja“, sagte Heyer. Er war Werbefachmann und fuhr jeden Morgen mit dem Vorortzug nach Ney York, wo er in der Madison Avenue tätig war. Er hatte ein Magengeschwür und war sich seiner Rolle als ,Typ’ sehr wohl bewußt. „Ja, dann wird er einen Roman über die vorstädtische Dekadenz schreiben, oder vielleicht auch ein paar beißende Essays für The New Yorker. Ich kenne den Schlag.“
In diesem Augenblick tauchte Daisy Moncrieff mit Davis Hallinan im Schlepptau auf, und die Unterhaltung verstummte abrupt, während alle Gäste ihm entgegenstarrten. Im nächsten Augenblick war die Gruppe sich ihres gemeinsamen faux pas bewußt und begann wieder zu plaudern, während Daisy sich zwischen ihren Gästen bewegte, um ihr Opfer vorzustellen.
„Dudley, das ist Mr. Davis Hallinan. Mr. Hallinan, ich möchte Ihnen Dudley Heyer, einen der talentiertesten Männer von New Brewster, vorstellen.“
„Ja? — Was machen Sie denn, Mr. Heyer?“
„Ich arbeite in der Werbung. Aber lassen Sie sich nichts erzählen — dazu gehört wirklich kein Talent. Nur einfach der Wunsch, das Publikum hinters Licht zu führen. Aber wie steht es mit Ihnen? Was machen Sie denn?“
Mr. Hallinan ging nicht auf die Frage ein. „Ich habe die Werbung immer schon für ein Feld gehalten, das schöpferische Initiative erfordert, Mr. Heyer. Aber ich habe natürlich nie aus eigener Anschauung …“
„Nun, ich schon. Und ich sage Ihnen, es ist verheerend.“ Heyer spürte, wie sein Gesicht sich rötete, als hätte er bereits zuviel getrunken. Er wurde redselig und empfand Hallinans Anwesenheit seltsam beruhigend. Er beugte sich zu ihm herüber und meinte: „Nur zu Ihnen gesagt, Hallinan, ich würde mein ganzes Bankkonto dafür geben, einmal zu Hause bleiben zu dürfen und zu schreiben. Nur schreiben. Ich würde gerne einen Roman schreiben. Aber ich habe nicht den Mumm dazu, das ist das Ärgerliche. Ich weiß, daß am nächsten Ersten wieder ein Scheck über vierzehnhundert Dollar auf meinem Schreibtisch liegt, und ich wage einfach nicht, das aufzugeben. Also schreibe ich meinen Roman nur hier oben im Kopf und ärgere mich.“ Er hielt inne und merkte, daß er zuviel gesagt hatte und daß seine Augen fiebrig glänzten.
Hallinan lächelte gütig. „Es ist immer traurig, ein verborgenes Talent zu sehen, Mr. Heyer. Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Glück.“
In diesem Augenblick tauchte Daisy Moncrieff auf, hakte sich bei Hallinan ein und führte ihn weg. Heyer, wieder alleingelassen, blickte auf den flauschigen Teppich hinunter.
Warum habe ich ihm jetzt alles das gesagt? fragte er sich. Eine Minute nachdem er Hallinans Bekanntschaft gemacht hatte, hatte er seinen größten Kummer auf ihn abgeladen — etwas, das er noch keinem Menschen in ganz New Brewster, nicht einmal seiner Frau, anvertraut hatte.
Und doch — es hatte irgendwie eine @kathartische Wirkung auf ihn gehabt, dachte Heyer. Hallinan hatte seinen ganzen Kummer und seinen inneren Kampf sozusagen in sich aufgesogen, und Heyer fühlte sich jetzt erleichtert und gereinigt.
Lys und Leslie Erwin befanden sich wie gewöhnlich an den entgegengesetzten Enden des Saales. Mrs. Moncrieff stieß zuerst auf Lys und stellte ihr Mr. Hallinan vor.
Lys sah ihn an und zog sich impulsiv das Kleid höher. „Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Hallinan. Ich möchte Ihnen gern meinen Mann vorstellen. Leslie! Würdest du ‘mal herkommen, bitte?“
Leslie Erwin kam näher. Er war zwanzig Jahre älter als seine Frau und Träger der schönsten Hörner in ganz New Brewster, wie allgemein bekannt war — ein Gehörn übrigens, das beinahe jede Woche ein paar neue Spitzen bekam.
„Les, das ist Mr. Hallinan. Mr. Hallinan, ich darf Ihnen meinen Mann vorstellen.“
Mr. Hallinan verbeugte sich höflich vor beiden. „Sehr erfreut.“
„Ebenfalls“, nickte Erwin. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden …“