„Das Ekel“, sagte Lys Erwin, als ihr Ehegespons sich an seinen Platz an der Bar zurückgezogen hatte. „Ich glaube, er würde sich lieber eine Kugel durch den Kopf jagen, als zwei Minuten mit mir in der Öffentlichkeit gesehen zu werden.“ Sie sah Hallinan verbittert an. „Verdiene ich diese Behandlung vielleicht?“
Mr. Hallinan runzelte mitfühlend die Stirn. „Haben Sie Kinder, Mrs. Erwin?“
„Ha! Das würde er nie wollen — bei meinem Ruf! Bitte entschuldigen Sie mich, ich habe vielleicht etwas zu viel getrunken.“
„Ich verstehe, Mrs. Erwin.“
„Ich weiß. Seltsam, ich kenne Sie kaum, und doch kann ich Sie gut leiden. Sie scheinen mich wirklich zu verstehen.“ Sie griff nach seinem Ärmel. „Ich brauche Sie nur anzusehen, da weiß ich schon, daß Sie mich anders einschätzen als die anderen. Ich bin nicht wirklich schlecht, oder? Ich langweile mich nur maßlos.“
„Langeweile ist ein großes Übel“, stellte Mr. Hallinan fest.
„Das kann man wohl sagen. Und Leslie hilft mir in dieser Beziehung wirklich gar nicht. Immer seine Zeitung — und wenn er einmal nicht liest, dann redet er mit seinem Makler.“ Sie sah sich um. „In einer Minute wird man anfangen, über uns zu reden, Mr. Hallinan. Jedesmal, wenn ich mich mit einem Mann unterhalte, fangen sie an zu flüstern. Aber Sie müssen mir etwas versprechen …“
„Wenn ich kann.“
„Irgendwann — bald — müssen wir einmal zusammenkommen. Ich möchte mit Ihnen sprechen. Gott, ich möchte mit jemandem sprechen — jemand, der wirklich versteht, weshalb ich so bin. Wollen Sie?“
„Aber natürlich, Mrs. Erwin. Bald.“ Er löste sachte ihre Hand von seinem Ärmel, hielt sie einen Augenblick fest und ließ sie dann los. Sie lächelte ihm hoffnungsvoll zu, und er nickte.
„Aber jetzt muß ich die anderen Gäste kennenlernen. Es war mir ein Vergnügen, Mrs. Erwin.“
Er ging weiter und ließ Lys mitten im Saal stehen. Sie atmete tief ein und zog sich das Kleid wieder etwas weiter herunter.
Wenigstens ist ein vernünftiger Mann in dieser Stadt, dachte sie. An Hallinan war etwas so — so Gütiges, Freundliches, Verständnisvolles.
Verständnis — das ist es, was ich brauche. Sie fragte sich, ob sie wohl nachmittags dem Haus auf dem Melonenhügel einen kleinen Besuch abstatten konnte, ohne daß es einen zu großen Skandal gab.
Mr. Hallinan erfuhr inzwischen von Martha Weede, wie sie ihren Mann um seine Intelligenz beneidete, und Lys Erwin hatte unterdessen Gelegenheit, Dudley Heyer zu sagen, daß Mr. Hallinan ein sehr freundlicher und verständnisvoller Mensch sei. Und Heyer, der noch nie an jemand ein gutes Haar gelassen hatte, stimmte zu.
Und später, während Mr. Hallinan von Leslie Erwin sich ein Klagelied über die eheliche Untreue seiner Frau anhörte, sagte Martha Weede zu Lys Erwin, „er ist so sanft — beinahe wie ein Heiliger.“
Und während Harold Dewitt seiner Angst Ausdruck verlieh, daß sein schweigsamer neunjähriger Sohn Lonny in irgendeiner Beziehung nicht ganz normal war, weil er gar nicht den richtigen Kontakt zu seinen Spielgefährten fand, meinte Leslie Erwin gegenüber Daisy Moncrieff: „Der Mann ist bestimmt ein Psychiater. Er weiß, wie man mit einem Menschen spricht. Binnen zwei Minuten habe ich ihm meinen ganzen Kummer erzählt. Ich fühle mich jetzt wie erneuert.“
Mrs. Moncrieff nickte. „Ich weiß, was Sie meinen. Als ich ihn heute morgen einlud, unterhielten wir uns eine Weile auf seiner Terrasse.“
„Nun“, meinte Erwin, „wenn er Psychiater ist, wird er hier eine Menge Arbeit finden. Hier gibt es doch keinen einzigen Menschen, der nicht seinen kleinen Tick hat. Nehmen Sie zum Beispiel Heyer dort drüben — der hat seine Magengeschwüre auch nicht aus reinem Glück bekommen. Und dieser Hohlkopf Martha Weede — mit einem Professor von der Columbia Universität verheiratet, der nicht weiß, worüber er mit ihr reden soll. Und meine Frau ist natürlich auch eine ziemlich konfuse Person.“
„Wir haben alle unsere Probleme“, seufzte Mrs. Moncrieff. „Aber mir ist jedenfalls viel wohler, seit ich mit Mr. Hallinan gesprochen habe. Ja, viel besser.“
Als Lys am nächsten Morgen aufwachte, war ein Teil der seltsamen Abgeklärtheit des vergangenen Abends von ihr gewichen. Ich muß mit Mr. Hallinan reden, dachte sie.
Sie war am vergangenen Abend mit ihrem Mann nach Hause gefahren und sogar einigermaßen höflich zu ihm gewesen. Und Leslie seinerseits war das auch gewesen. Es war direkt ungewöhnlich.
„Dieser Hallinan“, hatte er gesagt, „ein großartiger Bursche.“
„Du hast auch mit ihm gesprochen?“
„Hm. Habe ihm eine Menge erzählt. Vielleicht sogar zuviel. Aber mir ist seitdem wohler.“
„Seltsam“, sagte sie, „mir auch. Ein eigenartiger Mensch, nicht? Wandert auf der Party herum und hört sich die Wehwehchen von jedem an. Gestern abend hat man ihm bestimmt sämtliche Neurosen von ganz New Brewster auf den Rücken geladen.“
„Schien ihn aber nicht zu bedrücken. Je mehr er mit den Leuten sprach, desto freundlicher und gelöster kam er mir vor. Auf uns hat er ja auch seine Wirkung gehabt. Du siehst ganz entspannt aus, Lys, besser als seit Monaten.“
„Das bin ich auch. All das Häßliche und Böse ist von mir genommen.“
Und so hatte sie sich auch noch am nächsten Morgen gefühlt. Lys wachte auf, blinzelte, blickte auf das leere Bett neben sich. Leslie war schon lange auf dem Weg zur Stadt. Sie wußte, daß sie wieder mit Hallinan sprechen mußte. Sie war noch nicht alles losgeworden. Da war immer noch etwas von dem Gift in ihr, das unter Mr. Hallinans Warme dahinschmelzen würde.
Sie zog sich ungeduldig an, braute sich einen Kaffee und ging aus dem Haus; die Copperbeech Road hinunter, am Haus der Moncrieffs vorbei, wo Daisy und ihr steifer Mann Fred damit beschäftigt waren, die Aschenbecher vom vergangenen Abend auszuleeren, und dann den Melonenhügel hinauf zu dem kleinen Häuschen.
Mr. Hallinan kam in einem karierten Morgenmantel an die Tür. Er wirkte ziemlich müde, beinahe verkatert. Die Lider seiner dunklen Augen waren geschwollen, und auf seinen Wangen war ein leichter Anflug von Stoppeln zu sehen.
„Ja, Mrs. Erwin?“
„Oh — guten Morgen, Mr. Hallinan. Ich — ich wollte Sie sprechen. Ich hoffe, ich störe Sie nicht — das heißt …“
„Schon gut, Mrs. Erwin. Aber ich bin leider wirklich noch sehr müde von gestern abend, und ich wäre jetzt bestimmt kein besonders guter. Gesellschafter.“
„Aber Sie sagten doch, Sie würden heute allein mit mir sprechen. Und — oh, da ist noch soviel, was ich Ihnen sagen muß.“
Ein Schatten von — Furcht, Panik, Angst? — strich über sein Gesicht. „Nein“, sagte er hastig. „Nicht noch mehr — nicht jetzt. Ich muß heute ruhen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie erst am Mittwoch wiederkämen?“
„Aber natürlich nicht, Mr. Hallinan. Ich möchte wirklich nicht stören.“
Sie wandte sich um und ging den Hügel hinab. Er hat gestern abend zuviel von unseren Sorgen in sieb aufgenommen, dachte sie. Er hat sie aufgesogen wie ein Schwamm, und heute muß er sie verdauen …
Oh, was denke ich?
Sie erreichte den Fuß des Hügels, wischte sich ein paar Tränen aus den Augen und ging schnell nach Hause.
Und das entwickelte sich in New Brewster zu einer Routine. In den sechs Wochen bis zu seinem Tode war Mr. Hallinan eine feste Einrichtung bei allen Zusammenkünften der Gesellschaft — stets makellos gekleidet, stets mit einem freundlichen Lächeln um die Lippen, stets imstande, die geheimen Triebe und Ängste, die in den Seelen seiner Nachbarn lauerten, hervorzuholen.