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NICOLE C. VOSSELER

DER ENGLISCHE BOTANIKER

ROMAN

HarperCollins®

Copyright © 2016 by HarperCollins

in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Originalausgabe

Copyright © 2016 by Nicole C. Vosseler

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München

Umschlaggestaltung: Hafen Hamburg

Redaktion: Silvia Kuttny-Walser, Claudia Wuttke

Titelabbildung: Barney Burstein / Getty Images

ISBN eBook 978-3-95967-663-2

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

 

 

 

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ahnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

Für alle Suchenden.

Für die Träumer.

Und für die Abenteurer des Geistes, denen kein Meer zu weit, kein Berg zu hoch und kein Weg zu lang ist.

 

 

 

Historie

(Substantiv, f.; gr. ἱστορία; lat. historia; fr. histoire)

1.  Sammlung von Fakten und Ereignissen aus der Vergangenheit

2.  Geschichtswissenschaft

3.  Zeitspanne in der Vergangenheit

4.  Abenteuerliche oder erdichtete Erzählung

Arthur Waldegrave-Fernsby,

An Essential Dictionary of the English Language, London, 1852

 

 

 

… aber Poeten waren auch noch nie Botaniker.

Charlotte Turner Smith, Beachy Head, 1807

Geschichten keimen aus Körnchen von Tatsachen.

Geschichten wachsen und gedeihen unter den Elementen der Möglichkeit, im weiten Feld grenzenloser Vorstellungskraft. Treiben fantastisch anmutende Blüten und tragen Früchte von eigener Wahrhaftigkeit.

Wie diese Geschichte, die sich zugetragen und doch nicht zugetragen hat.

Damals.

Queen Victoria ist eine noch junge Königin, und die Daguerreotypie hat es gerade erst möglich gemacht, die Zeit in Grautönen und Sepia einzufrieren.

Eine Zeit, in der die bunten Flächen auf den Weltkarten noch weiß gefleckt sind.

Alexander Gordon Laing hat als erster Europäer die sagenhafte Stadt Timbuktu erreicht; zwei Jahre später ist René Caillié der erste Europäer, der lebend von dort zurückkehrt. Schon bald wird Johannes Rebmann der erste Weiße sein, der den Kilimanjaro erblickt, und nach David Livingstone werden sich auch Richard Francis Burton und John Hanning Speke aufmachen, die Quellen des Nils zu finden.

Terra incognita.

In Afrika. Amerika. Asien.

Unterdessen schwärmen die Untertanen Queen Victorias in die Wälder und Wiesen aus und fangen Schmetterlinge und Käfer; pressen Gräser und Blumen, um sie in ein Herbarium zu kleben. An den Küsten klauben sie Muscheln und Fossilien auf und versammeln sich abends im heimeligen Wohnzimmer um ein Mikroskop, das für wenig Geld zu haben ist.

Die Londoner Royal Botanical Gardens in Kew sind soeben erst für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden und werden innerhalb kurzer Zeit Hunderttausende Besucher im Jahr anlocken, mehr als Windsor Castle oder der Tower of London.

Es ist die große Stunde der Leidenschaft für die Natur, der unterhaltsamen und lehrreichen Lobpreisung ihres Schöpfers.

Während Charles Darwin in der Grafschaft Kent noch an seiner Theorie der Entstehung der Arten schreibt, ziehen Pflanzenjäger in die Welt hinaus, um die Sehnsüchte dieser Ära zu stillen und gleichzeitig neu zu entfachen.

Das Orchideendelirium und den Rosenwahn. Die Päonienmanie, das Palmenfieber und die Pteridomania – die Besessenheit von Farnen jedweder Gestalt.

Die Botanik ist zur Schatzsuche geworden.

Als im Namen zweier Pflanzen sogar Imperien in den Krieg ziehen, werden die Karten der Welt neu gezeichnet. Eine Tür öffnet sich, nur einen Spalt breit, doch weit genug, um einen Fuß hineinzusetzen.

In ein fernes, verbotenes Reich.

Irgendwo zwischen Legende und Wirklichkeit.

Hier sterben.

Im Bauch dieses Schiffs.

Ein Treibhaus, nicht aus Eisen und Glas und Sonnenlicht, sondern aus feuchtem Holz und Dunkelheit. In dem der Geruch von Bilgewasser und verrottendem Fisch wucherte. Das Fieberschweiß gären ließ und Atemdampf zu klebrigem Harz verdickte.

Dieser Lastkahn war ein elender Ort, um zu sterben. Als Fremder in einem noch fremderen Land, sechstausend Meilen fern von zu Hause.

Seine langen Beine hatten keinen Platz mehr in der Koje gefunden, die für Männer von niedrigerem Wuchs gebaut worden war. Nicht für einen Körper wie seinen, der von schottisch schroffer Grobknochigkeit war. Robust wie Unkraut nach einer Kindheit auf dem offenen Feld, der Lehrzeit in herrschaftlichen Gärten. Unter freiem Himmel und der Sonne, in frischer Luft, Wind und Regen abgehärtet, war er in dreißig Jahren nicht einen Tag krank gewesen.

Bis das Fieber kam.

Die Saat dafür musste er in Hongkong aufgelesen haben, in dieser kochenden Hitze, die aus der Luft zähes Gelee machte. An manchen Tagen hatte sein Thermometer vierundneunzig Grad Fahrenheit angezeigt, und nie war das Quecksilber unter die Marke von achtzig Grad gefallen, selbst in den Nächten nicht.

Ein Paradies für Fäulnis und Verfall, Fieber und Cholera.

Erst vor zweieinhalb Jahren, während des Krieges, war Hongkong für die Krone beschlagnahmt worden, und schon war der kleine englische Friedhof überfüllt, die Erde rot und frisch nach den jüngsten Begräbnissen: Major Pottinger. The Honourable J.R. Morrison. Mr Dyer, der lange in den Tropen, in Penang und Malacca, gelebt hatte, und Mr Stronach, die beide in Singapur an Bord der Emu gekommen waren.

Fremde hier wie er selbst und allzu flüchtige Bekanntschaften: heute gesund, morgen vom Fieber ergriffen und innerhalb weniger Tage dahingerafft. Hastig beerdigt unter einer Sonne, deren Gewalt von keinem noch so schmalen Schatten gemildert wurde.

Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass es ihm genauso erging.

Nur würde sein Grab das Südchinesische Meer sein, irgendwo zwischen Hongkong und Amoy.

Ein Narr war er gewesen, in dieses Abenteuer aufzubrechen.

Er war kein Abenteurer. Nur ein einfacher Gärtner, der das Gleichmaß seiner Tage schätzte und den langsamen, ruhigen Fluss der Jahreszeiten. Der noch nie über die britische Insel hinausgekommen war.

Wenigstens war für Jane und die Kinder – der Junge war noch ein ganz kleines Würmchen – gesorgt; dafür hatte er Vorkehrungen getroffen.

Er hatte um die Gefahr gewusst.

John Forbes konnte noch afrikanische Orchideen nach England schicken, bevor er am Ufer des Sambesi starb. Und als John Potts aus Indien zurückkehrte, hatte er nicht nur Primelsamen im Gepäck, sondern auch den Keim eines tödlichen Fiebers im Leib.

Trotzdem war er hierher aufgebrochen, kaum dass die Tinte unter dem Vertrag von Nanking getrocknet war, angelockt von der Aussicht auf unermesslichen Reichtum an Pflanzen.

China hatte der Welt den Pfirsich geschenkt und die Aprikose, verschiedene Zitrusfrüchte und den Rhabarber. Tigerlilien, Chrysanthemen und Hortensien.

Wie viel mehr mochte es noch zu entdecken geben in diesem monumentalen, dem Westen seit Jahrhunderten verschlossenen Reich?

Allein der Hafen von Canton war zugänglich gewesen, Umschlagplatz für Opium aus Indien, für Tee und die anderen Kostbarkeiten Chinas. Die Händler, die von dort zurückkehrten, versicherten, dass es die opulenten Päonien, mit denen das importierte Porzellan bemalt war, wirklich gab. Mit eigenen Augen hatten sie sie gesehen, die Kamelien und Magnolien, die prächtigen Rosen, die man zu Hause von den kunstvoll verzierten Fächern kannte, von Seidenstoffen und Tapeten, und sie berichteten von Gärten voller Wunder.