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In der Gegenwart des Mädchens konnte er das aussprechen, was ihm in den Sinn kam. Unter ihren Augen, die nicht urteilten, einfach nur beobachteten.

»Diese Stelle hier. Wo der Stängel aus der Wurzel hervorgeht. Hier soll die Seele einer Pflanze sitzen. Theophrastos von Eresos hat das geschrieben, im dritten Jahrhundert vor Christus. Undenkbar damals, dass eine Pflanze keine Seele haben könnte. Ich frage mich, wie dieser Gedanke im Lauf der Zeit verloren gehen konnte. Wann genau. Und warum. Ein kluger Mann, dieser Theophrastos. Der Vater der Botanik. Der Name der Päonie geht auf ihn zurück. Ebenso unsere Namen für Narzisse, Iris, Anemone, Krokus und Spargel. Ich habe mir früher oft gewünscht, durch die Zeit reisen zu können und ihm zu begegnen. Nur einen Tag lang unter ihm zu studieren.«

Wie ein Arkadien hatte er sich den Garten von Theophrastos vorgestellt. Ein Garten Eden. Mit Pflanzen aus aller Welt, dazu geschaffen, um sich in das Wunder der Natur zu vertiefen. Ihr Wesen zu studieren und Wissen zu erlangen.

Fast wie hier in Chusan.

Ab und zu dachte er noch daran, Wang hierher mitzunehmen. Für alle Fälle.

Wang jedoch schien zufrieden damit, unten an der Weggabelung auf ihn zu warten. Vermutlich war er inzwischen sogar dazu übergegangen, sich nach Tinghae zurückzuschleichen, um den Tag zwischen den Marktständen zu verbringen, die Obst und Gemüse aus dem Landesinnern anboten und eine Fülle an Fischen und Schalentieren obendrein. Irgendwo im Getümmel um die unzähligen Buden und Lädchen, die Göttergestalten aus Bambus und Stein verkauften, Räuchergefäße und fantastisch anmutende Tierfiguren. In einem Teehaus. Einer Garküche. Oder wo die Chinesen sonst die Stunden eines Tages totzuschlagen pflegten; er wusste ja, dass Fortune erst am Abend aus den Bergen zurückkehren würde.

Ein Arrangement, das Fortune nicht unlieb war.

Ihm gefiel diese Art von Doppelleben. Vom Abend bis zum Morgen war er der fremde Sonderling, den Wang in einer Mischung aus gnädiger Herablassung und Hahnenstolz durch das Land führte. Fremd und sonderbar war er sowieso, wohin er auch in diesem Land einen Fuß setzte.

Den Tag über jedoch wanderte er frei umher. Fern der gestrengen Blicke und der beißenden Bemerkungen von Fortune senior, der seinen Kindern Fleiß und Ehrgeiz eingeprügelt hatte. Dessen Erwartungen er mit der Leitung der Treibhäuser in Chiswick zwar erfüllt hatte, der aber die Beschäftigung seines Ältesten mit Orchideen und anderem nutzlosen Schnickschnack befremdlich fand.

Hier in Chusan konnte er sogar die Erwartungen der Society abschütteln wie einen mit Regen vollgesogenen Wollmantel – und seine eigenen Ansprüche gleich mit. Zwischen den Gräsern und Bäumen und Blumen der Insel konnte er ganz er selbst sein.

In diesen seltsamen Begegnungen mit dem Mädchen, in denen jeder für sich blieb und die ihr offenbar genauso behagten wie ihm.

Obwohl er sich manchmal dabei ertappte, wie er sich wünschte, sie würde ihn doch verstehen.

9

Er schien sich vollkommen sicher zu sein, dass ich ihn nicht verstand, wenn er vor sich hinmurmelte. Mit seinem blassen Mund, geschwungen wie der einer Frau.

Wie hätte er auch wissen können, wie leicht es war, die Sprache der fremden Teufel von den Straßen aufzulesen, als Schattengestalt in den dunklen Winkeln. Umso mehr, als die Barbaren es dazu noch für nötig hielten, ihre Worte mit vielen Gesten und Grimassen zu unterstreichen, die es einfach machten, deren Bedeutung zu erraten.

Worte, die hart und glatt waren wie Kieselsteine. Ohne die flüchtigen Zwischentöne, die bei uns demselben Laut, demselben Schriftzeichen eine andere Bedeutung gaben.

Und schon längst war die Sprache der Barbaren in die Mundarten meiner Landsleute eingesickert. Zu neuen Ausdrücken hatten sie sich vermischt. Zu einem neuen Dialekt, dessen Name eine verwaschene Aussprache seines Ursprungs war: Pidgin. Business.

Meine Mutter hatte oft gesagt, ich sei neugieriger, als es für ein Mädchen gut wäre.

Aber wie sollte man denn lernen ohne Neugierde? Und wie konnte Wissen überhaupt etwas Schlechtes sein? Man weiß doch nie, wofür man etwas, das man gelernt hat, einmal brauchen kann.

Das Leben ist so oder so hart und ungerecht, davor schützt auch Dummheit nicht. Und Schläge tun immer gleich weh, ob sie nun auf einen klugen oder einen dummen Kopf treffen.

Erst viel später verstand ich, was meine Mutter gemeint haben musste.

Wer neugierig ist, hebt irgendwann den Blick vom Herdfeuer. Vom Rand seines Reisfelds. Und entdeckt, dass es dahinter mehr geben muss. Wer neugierig ist, fängt irgendwann an, Fragen zu stellen. Zweifel zu haben. Vielleicht sogar gegen das Joch aufzubegehren, das man ihm aufgedrückt hat. Und stört damit die Ordnung, die die Götter und der Kaiser verlangten, die Ahnen und Vater und Mutter.

Eine Schande in der Welt, aus der ich kam. Und der erste Schritt zur Freiheit.

Weil ich neugierig gewesen war, hatte ich mein Leben in die eigenen Hände genommen, waren sie damals auch noch so klein.

Und nie hatte ich aufgehört, Fragen zu stellen. Etwas in Zweifel zu ziehen. Neues zu lernen, wann immer ich etwas davon auf meinen Wegen entdeckte.

Also hielt ich die Ohren gespitzt, auf meinem Platz zwischen den Gräsern. Versuchte, mehr von der Sprache der Barbaren zu lernen als das, was ich in den Hafenstädten aufgeschnappt hatte.

Es machte mir nichts aus, dass ich anfangs von den Selbstgesprächen des fremden Teufels nur einzelne Worte verstand, mir später Bruchstücke zusammenreimen konnte, doch vieles ein Rätsel blieb.

Ich mochte seine Stimme, die tief war und nie laut. Gleichmäßig und ruhig strömte sie vor sich hin wie die Fluten des Yangzi Jiang.

Dabei war dieser Barbar alles andere als schön anzusehen.

Unter dem Hut klebten ihm Haarsträhnen wie Braunalgen im Gesicht, das hastig und lieblos aus hellem Lehm zusammengeknetet schien. Sein Schöpfer hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, der Nase eine richtige Form zu geben; klobig ragte sie aus diesem Gesicht hervor wie der Rüssel eines mo.

Vielleicht bewirkte der Gedanke an dieses Fabeltier, das nachts kommt und die bösen Träume frisst, dass seine Augen ihren Schrecken verloren.

Sie waren nicht wie Glas. Sie waren wie Wasser.

Meistens von frischem Blau. Manchmal grau wie unter einem Regenhimmel, dann wieder grün wie ein Fluss an einem heißen Sommertag.

Ich hatte nicht gewusst, dass es auf dieser Welt Menschen mit solchen Augen gab.

Schmal und schräggestellt waren sie, fast wie bei uns. Und doch anders.

Fuchsaugen.

Ich mochte es, dass er nie etwas fragte, nie etwas forderte. Sich selbst genug zu sein schien, genau wie ich.

Mich auf eine freundliche Weise einfach sein ließ.

10

Manchmal richtete er sogar das Wort an sie.

»Hast du schon einmal so etwas Schönes gesehen? Dieses leuchtende Weiß der Blüten gegen das Bronzepurpur der Blätter. Abelia rupestris. Ein Geißblattgewächs, und genauso herrlich duftend. Tausendblütenstrauch nennen wir sie auch.«

Behutsam strich er über die schlanken Glöckchen.

»Ich wüsste zu gern, wie ihr hier dazu sagt.«

Eingehüllt in den süßen Duft, zählte er die Staubblätter.

Vier. Blassrosa waren sie.

»nuomitiao.«

Laute wie das Maunzen einer Katze; atemlos und flüchtig zitterten sie durch die Luft.

Er hob den Kopf.

Das Mädchen war aufgesprungen. Ihr Gesicht glühte. Ein in seiner Jugendlichkeit verletzliches Gesicht, aber kein feingezeichnetes. Ein starkes Gesicht, mit seinen kräftigen Linien und wenigen klaren Schwüngen.

»Du verstehst meine Sprache?«

Das Mädchen deutete ein Nicken an und hob eine Schulter. Wie zur Entschuldigung, dass sie ihn all die Tage in dem Glauben gelassen hatte, sie verstünde kein Wort.

Wie eine Einschränkung: ein bisschen.

Er kramte sein Notizbuch hervor und blätterte es auf. »Nu-o … wie?«