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Fragend sah er sie an.

»nuo. mi. tiao.”

Heiser klang sie und bemüht geduldig.

»Nuome …«, versuchte er sich murmelnd an einer Wiederholung.

Ein Aufblitzen in den Augen – Spott? Belustigung? –, ein winziges Lächeln, dann drehte sie sich um und ging davon.

nuomechau.

Fortune starrte auf die Buchstaben, eilig nach Gehör hingekritzelt.

Er fragte sich, wie viel das Mädchen wohl tatsächlich verstanden haben mochte von all dem, was er so unbedacht von sich gegeben hatte, an jedem einzelnen Tag.

Warm kroch die Verlegenheit an seinem Hals empor, doch um seinen Mund zuckte es.

11

Ich wickelte mich tiefer in meine Jacke, während ich durch das hohe Gras auf der anderen Seite des Hügels stapfte; der Herbstwind kühlte meine heißen Wangen.

Immer wenn ich an sein Gesicht dachte, als er begriffen hatte, dass ich ihn die ganze Zeit über sehr wohl verstanden hatte, lachte ich in mich hinein.

Obwohl ich selbst wohl am meisten erschrocken war, als ich meine eigene Stimme hörte. Mit nur drei Silben die unsichtbare Mauer zum Einsturz brachte, die mir Sicherheit gab und hinter der ich mich allmählich wohlzufühlen begann.

Ist ein Wort erst einmal ausgesprochen, kann es nie wieder zurückgenommen werden – das war eine der Weisheiten, die der alte Anshin an mich weitergegeben hatte.

Oft war mir sein Garten Zuflucht gewesen, wenn ich mich in Schwierigkeiten gebracht hatte. Mich an den strengen Regeln meines neuen Zuhauses blutig stieß, meist wegen meiner vorschnellen Zunge.

Gegen den ersten Zorn half es, mit einem Stock auf das Gebüsch jenseits der Mauern einzudreschen; es tat gut, mit meinem Schwert die Wiesen unten am Hang niederzumähen. Doch selbst wenn ich mich dabei völlig verausgabt hatte, mit müden Muskeln nach Luft schnappte, tobte es manchmal immer noch in mir.

Dann ging ich zu Anshin in den Garten. Einfach nur zuzusehen, wie er mit aller Zeit der Welt seine Kräuter hegte, seine Zwiebeln und Rosen und seine Zwergenbäumchen, beruhigte und tröstete mich.

Anshin hörte mir zu.

Anshin wusste Rat. In wenigen, besonnenen Worten.

Bei Anshin lernte ich zu schweigen. Stillzuhalten.

Während meine Meister mich die Kontrolle über meinen Körper lehrten, lehrte mich der alte Gärtner die Kontrolle über meinen Geist.

Es war kein leichtes Leben, das ich führte, aber ein gutes. Ungleich besser als dasjenige, das für mich vorgesehen gewesen war. Ich liebte die Freiheit, die dieses Leben mir gab. Den Sinn, den es mir an jedem neuen Tag schenkte.

Und trotzdem fühlte es sich gut an, mich aus meinem eigenen Schatten gelöst zu haben. Die Maske der stillen Beobachterin abzuwerfen. Nicht mehr nur eine der unzähligen namenlosen jianghu zu sein, die allein oder zu mehreren durch das Land zogen.

Sondern ich selbst.

Ich war froh, dass ich dieses eine Wort ausgesprochen hatte und es nun nie wieder zurücknehmen konnte.

Ich hoffte auf viele weitere Worte.

12

Unter dem grauen Himmel leuchteten die Blüten in kräftigem Purpurrosa, die Staubblätter in ihrer Mitte wie tausend winzige Sonnen. Mit einer Fröhlichkeit, die beinahe vergessen ließ, dass es schon spät im Herbst war. Wie kalt der Wind doch blies.

Der stumpf gewordene Bleistift in seinen klammen Fingern glitt langsamer über das Papier.

Fortune hob den Kopf. Seine Nase lief, er schniefte.

»Diese Blume habe ich oft auf Gräbern gesehen. In Weiß. Hat das eine besondere Bedeutung?«

Das Mädchen schwieg.

Fortune hatte den Eindruck gewonnen, dass sie zwar nicht alles verstand, was er sagte, aber doch das meiste. Das Wichtigste. Er hatte es nicht eilig, ließ ihr Zeit.

»Tod«, flüsterte sie nach einer Weile. »Die Blume ist Tod. Weiß ist Tod. Trauer.«

Betreten senkte er den Blick auf Anemone hupehensis.

Es war ihm unangenehm, nicht von selbst darauf gekommen zu sein. Womöglich ein Tabu verletzt, an einer alten Wunde des Mädchens gerührt zu haben.

Die Stille klang jedenfalls danach.

»Bei uns gibt es die Sage von Adonis«, erzählte er leise. »Ein schöner Jüngling, den sowohl Aphrodite als auch Persephone begehrten. Ares, der Kriegsgott, war deshalb eifersüchtig und schickte einen wilden Eber, der Adonis tötete. Aus seinem Blut entsprangen rote Anemonen, aus jedem Tropfen eine.«

Unter zusammengezogenen Brauen starrte das Mädchen ihn an.

»Tochter des Windes«, fügte er lahm hinzu und kratzte sich mit dem Bleistift an der Schläfe. »Das bedeutet der Name Anemone. Ja. Tochter des Windes.«

13

Weiß.

Die Farbe des Todes. Der Trauer.

Schwermut ergoss sich über mich; eine salzige Flutwelle, die mich fortriss, in einen abgrundtiefen Ozean hinein.

Bestimmt glaubte er, ich würde an jemanden denken, der mir lieb gewesen war und den ich an den Tod verloren hatte. Doch obwohl der Groll gegen meinen Vater und meine Mutter längst erloschen war, dachte ich kaum mehr an sie, nicht an meine Brüder und Schwestern. Es war zu lange her.

In einem anderen Leben.

Die Blume des Todes war es, die er hier studierte.

Auch bei uns zu Hause wuchsen diese weißen Blumen auf den Gräbern. Ich hatte ihren genauen Namen vergessen, vielleicht wollte ich mich auch einfach nicht mehr daran erinnern.

Aber ich wusste noch sehr wohl, dass ihr Name das Bild einer Schale voller Blumen heraufbeschwor, die zerbrochen war. Wie ein zerschmetterter Menschenkörper, in dem der Geist welkte und abstarb. Während die Seele noch irgendwo umherirrte.

Als Kind hatte mich dieses Bild unendlich traurig gemacht.

Da hatte ich auch noch nicht gewusst, wie es war, solche Schmerzen zu erleiden, dass man zu sterben glaubte. Dass es Momente gab, in denen der Tod wie eine Erlösung schien.

Stunden. Ganze Tage und Nächte.

Weiß war die Farbe dieser Schmerzen gewesen. Die Farbe meiner Angst. Meiner Tränen, von denen ich damals so viel weinte, dass sie für ein Menschenleben gereicht hätten.

Seitdem hasste ich die Farbe Weiß.

Ich war ihm dankbar, dass er nicht weiter nachfragte. Mir einige Augenblicke der Stille schenkte, damit ich mich wieder sammeln konnte. Mir nur verstohlene Blicke zuwarf.

Ohne Mitleid, das immer eine Spur Herablassung in sich trug.

Sondern mit Mitgefühl. Von dem es viel zu wenig gab auf dieser Welt.

Dieser ungelenke Fremde, der mein Schweigen mit mir teilte, bevor er mir eine Legende aus seinem fremden Land erzählte, leise und behutsam.

Tochter des Windes.

Das war ich geworden – genauso wild, genauso rastlos und frei.

Er hätte mir nichts Schöneres erzählen können.

14

»Tochter. Des Windes.«

Vorsichtig schien sie den Worten auf ihrer Zunge nachzuschmecken. Ihre Stirn glättete sich.

Ermutigt schob Fortune sich den Bleistift hinter das Ohr.

»Ich heiße übrigens Robert. Robert Fortune.”

Wieder zeichnete sich eine Falte über der Nasenwurzel des Mädchens ab.

»Ro. Bert.” Mit der Handfläche klopfte er auf sein Brustbein. »For. Tune.«

Die Falte vertiefte sich.

»Fu-Chung?”, schob er ratlos nach.

Ihre Miene entspannte sich, zeigte fast so etwas wie ein Lächeln.

Womöglich traf seine Vermutung zu, dass Wangs Verballhornung seines Namens bestenfalls Nonsens war. Sofern die Laute hierzulande nicht so etwas wie Hornochse oder Pisspott bedeuteten.

»Lian. Mein Name. Lian.«

»Li-änn? Wie …” Fieberhaft blätterte er in den beschriebenen Seiten des Notizbuchs. »Hier! Lian. Wie die Trauerweide! Die bei euch Seufzende Weide heißt? Der Baum – so?«

Seine Finger ahmten schwer herabhängende Zweige nach, durch die ein sanfter Wind strich.

Sie schüttelte den Kopf.

»Das ist chui liu. Der Baum. Lian ist … Ast von dem Baum. Ast, der …«

Ihre Finger strichen durch die Luft und malten Lemniskaten hinein, anmutig und doch voller Kraft.

»Biegsam!«, rief Fortune aus. »Biegsame Weide!”