Ein geborgter Name war es ohnehin gewesen. Das Recht darauf hatte ich verwirkt, als ich wegging, und irgendwann aufgehört, mich damit gleichzusetzen.
Bis er kam und mich danach fragte.
Und ich wieder Lian sein konnte.
Er. Fu-Chung.
Hatte er seinen Namen selbst nach Gehör in unsere Sprache übertragen? Falls es jedoch jemand für ihn übernommen hatte, hatte derjenige auf jeden Fall einen guten Blick bewiesen; ich musste mir immer ein Lachen verkneifen, wenn ich daran dachte.
Reicher Grashüpfer.
Seinen richtigen Namen mochte ich sehr.
Fortune.
Dieses Wort kannte ich.
xingyun. Erfolg. Wohlstand. Segen. Glück.
Obwohl er nicht besonders reich aussah, selbst für einen Fremden, und nicht so leichtherzig und beschwingt wirkte, wie ich mir immer einen Glückspilz vorgestellt hatte, war ich manchmal versucht, über den Ärmel seiner Jacke zu streichen. Wie unabsichtlich. Um eine Prise Glück mit den Fingerspitzen aufzuwischen.
Nur für alle Fälle, jeder konnte ja ein Quäntchen Glück brauchen.
Ich mochte, dass er mich zwar immer wieder forschend musterte, aber auf eine vorsichtige, respektvolle Art. Und nie versuchte er, näher an mich heranzurücken oder mich gar anzufassen; das nahm mich sehr für ihn ein.
Unbedarft kam er mir zuweilen vor. Unbeholfen, fast ein bisschen einfältig. Als hätte er noch nicht besonders viel vom Leben gesehen, obwohl er doch ein erwachsener Mann war.
Einen weisen Narren hätte Anshin ihn vielleicht genannt.
Dabei war er alles andere als dumm. Nicht mit der gerissenen Schläue eines Händlers. Nicht mit dem Schriftwissen eines Kaiserlichen Beamten. Eher wie ein Gelehrter – wäre er nicht so sehr ein Mann der Natur gewesen.
Er war anders als die anderen fremden Teufel, die ich bisher gesehen hatte. Leiser. Ernsthafter. In sich gekehrt; ich konnte mir nicht vorstellen, dass er je so ausgelassen und übermütig gewesen war wie die Jungen, mit denen ich aufwuchs.
Manchmal hätte ich gern mehr über ihn gewusst. Über das Land, aus dem er kam. Aber ich war es nicht gewohnt, Menschen über ein begrenztes Maß hinaus näherzukommen.
Ich wünschte, wir hätten Freunde sein können.
Der Himmel verdüsterte sich. Ein Geräusch wie von Wellen rollte heran, und ich legte den Kopf in den Nacken.
Eine Schar Schwanengänse zog über uns hinweg, mit rauschendem Flügelschlag und trockenen Rufen.
Als Kind hatte ich davon geträumt, mit ihnen zu fliegen. Genauso frei zu sein.
Jedes Mal, wenn ich heute welche sah, stand ich in Gedanken wieder vor der Hütte, in der ich geboren worden war. Hörte hinter mir das Grunzen und Quieken des Schweins in seinem Verschlag, das Meckern der Ziegen. Das Zischen der Sichel in der Hand meines Vaters und die Stimmen meiner Mutter und meiner Geschwister. Und jedes Mal erinnerte ich mich daran, wie mir alles aus den Händen glitt und ich losstürmte, den Gänsen nach. Schneller und schneller rannte ich, überzeugt, mich in die Lüfte erheben zu können, wenn ich nur schnell genug lief. Berauscht von der Geschwindigkeit und mit dem herrlichen Gefühl der schweren, nassen Erde unter meinen bloßen Füßen.
Die Gänse waren früh dran in diesem Jahr, auf ihrem Weg nach Süden. Ich hatte mein Gefühl für Zeit verloren und beinahe die Zeichen übersehen, die den nahen Winter ankündigten. Bald würde es zu kalt sein, um in der Wildnis zu leben.
Das altbekannte heiße Sehnen brannte in meinen Armen und Beinen.
Es war Zeit, weiterzuziehen, ich war schon zu lange geblieben.
Ich hätte ohnehin nicht gewusst, wie man mit jemandem gut Freund war.
Victoria (vormals Queenstown), Britische Kronkolonie von Hongkong.
Freitag, den 7. Juli 1843, acht Uhr abends
Liebe Jane,
einige Stunden nachdem ich einen ersten Blick auf die Küste Chinas werfen konnte, bin ich gestern hier in Hongkong an Land gegangen. Wohlbehalten, aber froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.
Ich kann nur hoffen, dass diese Zeilen bei Dir ankommen. Nachdem ich die lange Seereise selbst mitgemacht habe, kann ich nun die Anweisung der Society nachvollziehen, meine Schreiben nach London in doppelter Ausfertigung und auf getrennten Wegen zu versenden.
Die Stadt Victoria kommt mir noch unfertig und recht chaotisch vor, und nach nur einem Tag scheint mir Hongkong kein erschöpfendes Betätigungsfeld für meine Aufgabe. Da noch nicht abzusehen ist, wohin mich mein weiterer Weg führen wird, möchte ich Dich bitten, Deine Briefe an mich der Horticultural Society zu übergeben. Zu treuen Händen, bevorzugt an John Lindley. Er wird dafür sorgen, dass sie mich über kurz oder lang erreichen – je nachdem, wo ich mich gerade aufhalten werde.
Ich hoffe, Dir und den Kindern geht es gut.
In Gedanken bei Euch,
Robert
Sie hat gewusst, dass sie nicht oft von ihm hören wird.
Jeder Brief, den er schreibt, legt einen unendlich weiten Weg über die Ozeane der Welt zurück. Etwas mehr als vier Monate auf einem Schiff, und ihre Antwort wird dann genauso lange unterwegs sein.
Hin und zurück fast die Zeit, die ein Kind braucht, um zur Welt zu kommen.
Es entspricht ihm auch nicht, ausschweifende Episteln zu schreiben. Sein Herz auf Briefpapier auszuschütten.
Sie sind beide keine Menschen vieler Worte, haben weder für Schwärmereien noch für große Gesten etwas übrig.
Seine Ernsthaftigkeit – sie war es, die Jane anfangs am meisten für ihn eingenommen hat.
Diese Art von Ernsthaftigkeit, die niemanden je auf die Idee kommen ließe, seinen Namen zu Rob, Robbie oder Bert zu verkürzen.
Er war nicht wie die ausgelassenen Burschen, die ihr derbe Scherze nachriefen. Nicht wie die eitlen Frauenhelden, die ihre hungrigen Augen auf der Suche nach einem frivolen Geplänkel umherschweifen ließen.
So hochgewachsen, dass er fast alle anderen Männer auf der Straße überragte, obwohl er den Kopf gesenkt hielt, ging er in sich gekehrt seiner Wege. Mit einer Zielstrebigkeit, die einen Sog auf Jane ausübte; sie wäre ihm gern gefolgt, wohin es ihn auch zog.
Konzentriert saß er im Gottesdienst in St. Mary’s, und genauso in sich versunken verrichtete er seine Arbeit im Botanischen Garten – wie sie an einem ihrer freien Tage überrascht feststellte, mit leichtem Herzklopfen.
Es dauerte, bis er sie bemerkte.
Plain Jane. Unscheinbare, hausbackene Jane.
Fremd noch in der großen, grauen Stadt, ein Mädchen vom Land, und gehemmt.
Aber beharrlich, wenn sie sich etwas in den Kopf setzt.
Die ersten Blicke, der erste zaghafte Gruß. Die ersten Worte, die sie wechselten, unbeholfen und verlegen. Erstaunt, beim anderen den gleichen heimatlichen Zungenschlag zu hören, der eine unerwartete Nähe schuf.
Ein Wunder, dass sie sich nicht schon früher begegnet waren, daheim keine zehn Meilen voneinander entfernt aufgewachsen, er in Edrom, sie in Swinton. Und auch hier in Edinburgh lagen nur fünf Minuten Laufweg zwischen seiner Broughton Street und ihrer Albany Street.
Beides Landgewächse, aus Cottages auf herrschaftlichem Grundbesitz stammend, mit vielen Geschwistern und hart arbeitenden Eltern, wussten sie genau, was sie vom Leben erwarteten.
Bescheidenen Wohlstand. Ein Heim. Familie. Eine Ehe, in der einer dem anderen ein guter Kamerad war.
Sogar ihre Namen schienen perfekt aufeinander abgestimmt.
Jane Penny. Robert Fortune.
Grundlage für neckende Wortspiele. Eine Erinnerung daran, wo sie herkamen, und ein Wegweiser, wo sie hinwollten.