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Erst bei den genüsslichen Fresslauten neben sich merkte er, wie hungrig er selbst war.

»Du gestattest.«

Er langte in den Bottich und knetete Reis zu einem Bällchen; es schmeckte nach nichts, füllte aber seinen hohlen Magen.

Das Pony beäugte ihn von der Seite; mitleidig, wie es ihm vorkam.

China machte aus ihm wieder den linkischen Burschen, dem er sich längst entwachsen geglaubt hatte. Von dem planvollen und zupackenden Mann, der im Botanischen Garten von Chiswick fast ein Dutzend Gärtner und Hilfsgärtner unter sich gehabt und gut geführt hatte, meilenweit entfernt.

Barfuß und nach Jauche stinkend saß er hier, nachdem er mitsamt seinem Reittier durch eine morsche Brücke gekracht und in einem Abwasserkanal gelandet war. Aß aus demselben Bottich wie das Pferd und unterhielt sich dazu noch mit ihm.

In China schien er sich lächerlich zu machen, wohin er auch ging.

Wie ein Hanswurst.

Nicht dass er in dieser Hinsicht eitel gewesen wäre, das nicht; er fühlte sich nur unbeholfen in diesem fremden Land. In dem nichts ihm nützte, was er in seinem Leben bisher gelernt hatte, ihn dafür aber allzu oft behinderte.

Kauend schaute er sich um.

Hier, am Rande des Dörfchens, war er der ersehnten Hügelkette sehr nah; was er davon erkennen konnte, ließ ihn annehmen, dass sich ein paar ausgedehnte Märsche dorthin lohnen könnten.

Seitdem er in China unterwegs war, konnte er die abstrakte, schwarz-weiße Karte der Society mit dem vergleichen, was er mit eigenen Augen sah. Er begann zu ahnen, wie riesig dieses Reich tatsächlich war, das sich hinter den Hügeln dort drüben ausdehnte.

Ein unbekanntes Universum, das in seiner Vielgestalt, seiner Fremdartigkeit vermutlich Fortunes Vorstellungskraft überstieg. So gewaltig und labyrinthisch, dass er fürchten musste, es würde ihn verschlingen, überschritte er die schmale Grenze von dreißig Meilen ins Landesinnere hinein.

In seinem Leben hatte es selten Momente gegeben, in denen er sich wünschte, jemand anders zu sein; meistens war er zu sehr mit dem beschäftigt gewesen, was ihn interessierte, ihn begeisterte: mit den Wundern der Natur, der Botanik.

Hier in China jedoch hätte er jemand sein müssen, der die Jahre, in denen er sich ein Leben aufgebaut und darin eingerichtet hatte, von sich abschälte wie die Häute einer Zwiebel. Jemand, der frisch und scharf genug war, sich von der Fremde formen zu lassen und sich dabei zu holen, was er haben wollte.

Ein Mann, wie er nie einer gewesen war.

Er wünschte sich, wagemutiger zu sein. Ein Abenteurer.

Er dachte an Lian.

Sie war einfach weggeblieben, von einem Tag zum nächsten.

Ohne ein Wort des Abschieds. Ohne eine Erklärung.

Fortune wusste nicht, ob ihr etwas zugestoßen war oder er sie verjagt hatte. Mit etwas, das er gesagt oder getan hatte? Mit einer Geste, einem Blick?

Geduldig hatte er in Zhoushan ausgeharrt, länger als ursprünglich geplant. Hatte nach ihr Ausschau gehalten, wenn er über die Wiesen und Hügel stapfte. Irgendwann hatte er sogar die Pflanzenwelt vernachlässigt und gezielt nach ihr gesucht. An Abhängen, in Flussbetten und im Unterholz der Wälder. Getrieben von der Sorge, sie könnte irgendwo mit verstauchtem Knöchel, mit gebrochenem Bein liegen – oder Schlimmeres.

Bis er eingesehen hatte, dass es sinnlos war. Eine sentimentale Fantasie von Ritterlichkeit und Heldentum.

Das Mädchen mit dem Schwert blieb wie vom Erdboden verschluckt.

Eines der Rätsel in diesem fremden, seltsamen Land, das ungelöst bleiben würde.

Als hätte es sie nie gegeben, als hätte er nur geträumt.

Mit zufriedenem Schmatzen richtete das Pony seinen Blick auf ihn.

Morgen würde er über den Fluss hierherkommen, mit einem Boot; dies war keine Strecke, die er einem Reittier ein zweites Mal zumuten wollte. Zumal sein eigenes Hinterteil vermutlich gehörig strapaziert sein würde, wenn er am Abend wieder durch das Stadttor von Shanghai geritten kam.

Fortune streckte die Hand aus und kraulte das Pony zwischen den Ohren.

»Was lernen wir daraus? Umwege führen einen nur in die Irre. Künftig nehme ich immer den direkten Weg.«

Shanghai, Herberge »Goldener Lotos«.

Montag, der 25. Dezember 1843, sechs Uhr morgens

Liebe Jane,

ich hoffe, mein Brief aus Hongkong, geschrieben und abgeschickt im Juli, hat Dich mittlerweile erreicht.

Seit diesem Brief habe ich viele Meilen in China zurückgelegt – die meisten davon auf dem Wasser und sehr viele auch zu Fuß.

Ein Land voller Merkwürdigkeiten ist dieses China, und zuweilen denke ich mir, dass ein Menschenleben nicht ausreicht, um alles davon kennenzulernen und das Wesen seiner Bewohner zu ergründen.

Der Winter hier in Shanghai ist bisher sehr mild, mit leichtem Regen und Nebel. Ich habe jedoch gehört, dass es im Januar sehr kalt werden kann, sogar Schnee fallen soll.

Nachdem ich zwischenzeitlich in Regionen mit einer reichen Pflanzenwelt unterwegs war, erfahre ich derzeit auf meiner Reise eine Durststrecke.

Zu dieser Jahreszeit ist die Umgebung der Stadt Ödland, und der Zutritt zu den berühmten Gärten der Mandarine ist mir bislang jedes Mal verwehrt worden. Ich bin schon fast geneigt zu glauben, diese Gärten sind nichts weiter als eine Mär. Oder über Nacht schlichtweg vom Erdboden verschwunden.

Im Frühling brechen sicher auch hier für mich bessere Tage an. Dennoch versuche ich weiterhin mein Glück in Shanghai. Schließlich ist es eine große Stadt, verschachtelt und unübersichtlich, mit unzähligen versteckten Ecken.

In einem dieser verborgenen Winkel habe ich ein Lädchen entdeckt, kaum größer als unsere Speisekammer, und dort diese kleinen Figuren gekauft. Aus Jade sollen sie sein, das hat man mir versichert. Was ich kaum glauben kann, weil sie fast nichts gekostet haben.

Von künstlerischem Wert sind sie auf jeden Fall, allein schon wegen der feinen Schnitzarbeit, und ich habe manchen langen Abend damit zugebracht, über das Wesen dieser Fabeltiere zu rätseln.

Ursprünglich wollte ich mit meinem Paket an Dich und die Kinder warten, bis ich eine weitere Kiste Pflanzen für die Society zusammengepackt habe. Nun bringe ich es jedoch jetzt schon auf den Weg, mit einem Frachter, der morgen früh hier ausläuft. Ich hoffe, die Kinder haben Freude an dem Spielzeug und Du findest Verwendung für die Seide.

Mein Weihnachtspaket an Euch – auch wenn es wohl schon Frühling sein wird, bis Ihr es öffnen könnt.

Ich hoffe, Ihr bleibt von einem allzu strengen Winter verschont und könnt einen baldigen Frühling erleben. Sollten eine lange Kälteperiode und ein spätes Frühjahr das Brennholz knapp werden lassen, das ich vor meiner Abreise geschlagen habe, so gib bitte John Lindley kurz Nachricht – er wird einen Hilfsgärtner schicken, der sich darum kümmert.

Erzähl Helen, dass ihr Vater unlängst auf einem Pony geritten ist und sich dabei gehörig zum Narren gemacht hat. Und gib John einen Geburtstagskuss von mir – es kommt mir vor, als wäre es erst letzte Woche gewesen, dass Du ihn zur Welt gebracht hast und ich ihn das erste Mal im Arm hielt.

Frohe Weihnachten und ein gesegnetes neues Jahr Dir und den Kindern!

Zu dieser Zeit des Jahres sehr in Gedanken bei Euch,

Robert

Chiswick, am Weihnachtstag 1843

Lieber Robert,

ich will nicht klagen und Dich auch nicht betrüben – aber es war heute ein trauriger Weihnachtstag ohne Dich.

Besonders für Helen. Sie erinnert sich noch gut an das letzte Weihnachtsfest und fragt immerzu nach ihrem Papa. Lichterglanz und Tannenduft, Mince Pie und die Päckchen konnten sie heute nicht ganz darüber hinwegtrösten, dass Du nicht da bist.

Gern hätte ich die Einladung Deiner Eltern für die Feiertage angenommen. Auch um meine Eltern wiederzusehen und meine Schwestern, die John ja noch gar nicht kennen. Aber die zweiundvierzig Stunden mit der Kutsche nach Edinburgh und von dort mit dem Wagen weiter nach Edrom habe ich mir mit John derzeit nicht zugetraut.