Dieser Tage fiebert er immer wieder leicht, vor allem abends. Die ersten Zähnchen vorne haben ihm kaum Beschwerden bereitet, aber jetzt plagt ihn ein Backenzahn, der einfach nicht durchbrechen will. Und tagsüber ist er oft unleidlich, weil seine Beinchen ihn noch nicht so tragen, wie er es sich in den Kopf setzt. Unser kleiner großer Junge!
Helen hat ihm zu Weihnachten ein Bild gemalt. Es hängt jetzt über seinem Bettchen, und vor dem Einschlafen hat er lange darauf geschaut.
Für Dich hat sie auch etwas gemalt, ich lege es diesem Brief bei.
Hast Du mein Päckchen bekommen?
Ich hatte es im August auf gut Glück abgeschickt, damit Du es an Weihnachten bekommst. Bevor ich Deinen Brief aus Hongkong erhielt, in dem Du mir geschrieben hast, dass Du nicht weißt, wohin Dich Deine weitere Reise führen wird. Vielleicht schickt jemand es Dir von dort nach? Sonst wartet es eben auf Dich, bis Du wieder nach Hongkong kommst.
Es ist nichts Besonderes darin, nur zwei neue Hemden und drei Paar Socken, falls Du Deine schon zerschlissen hast.
Ich weiß ja, Du musst mit leichtem Gepäck reisen, Dein Werkzeug, die Pflanzenkisten und Glaskästen sind wichtiger als alles andere, als persönliche Dinge.
Falls Du etwas brauchst, das Du in China nicht bekommst – schreib es mir. Ich werde es besorgen und auf der Stelle losschicken, damit es so schnell wie möglich bei Dir ist. Vielleicht können wir im nächsten Jahr zu Weihnachten nach Schottland fahren?
Wenn Du aus China zurück bist und John aus dem Gröbsten heraus.
Wir vermissen Dich sehr und wünschen uns für das neue Jahr nichts mehr, als dass Du wieder bei uns bist.
Frohes Fest,
Deine Jane, Helen & John
Pfingstrosen im Winter
(Paeonia suffruticosa)
Pfingstrose. Verschämtheit. Schüchternheit. Mitgefühl. Glückliche Ehe.
Flora Greensleeves, The Language of Flowers, London, 1837
Wenn du auf dieser Welt nur noch zwei Kupfermünzen übrig hast, kauf mit der einen Münze einen Laib Brot und mit der anderen eine Pfingstrose.
Chinesisches Sprichwort
17
Mittwoch, 17. Januar 1844
Überwiegend klar und frei von Niederschlag bei einem Maximum von 25 Grad Fahrenheit. Minimum laut Thermometer 19 Grad – die sich jedoch anfühlen wie 10 Grad oder noch weniger. Eisig!
Nach diesen Monaten in China hatte ich schon angefangen, mir eine hohe Meinung von den Chinesen als Volk zu bilden. Hier in Shanghai hat sich jedoch herausgestellt, dass das ein Fehler war, und das auf sehr unangenehme Weise. Sie sind die größten Diebe und Räuber, Lügner und Betrüger, wie ich ein ums andere Mal an eigenem Leib erfahre.
AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE
Am wackeligen Tisch klappte Fortune sein Notizbuch zu und hauchte sich auf die steifgefrorenen Finger. In der Kammer war es eiskalt, er konnte froh sein, dass es gerade trocken blieb. Mehr als einmal war er morgens in von Regen durchnässtem Bettzeug aufgewacht, und wenn es schneite, blies der Wind den Schnee durch die Ritzen des mit Papier bespannten Fensters, bis er sich auf dem Boden aufhäufte.
»Geht Fu-Chung wieder auf Jagd nach Grünzeug?«
Wang lümmelte auf seiner Bettstatt herum; er machte nicht den Eindruck, als wollte er sich heute noch bewegen.
»Natürlich.«
»Wofür?«
Wangs Frage in einem Tonfall, der irgendwo zwischen ehrlicher Verwunderung und Spott angesiedelt war, kam nicht ohne Grund.
Fortunes Blick wanderte in die Ecke.
Die Holzkiste dort war noch fast leer. Nur die gepressten Blüten zweier Arten von Chrysanthemen schlummerten darin, leisteten einzelnen Zweigen von Bambus Gesellschaft und Ästen von Gingko und Cryptomerica japonica, einer Zypressenart.
Eine mehr als magere Ausbeute, verglichen mit der reichen Ernte aus Zhoushan, die er bereits in Ning-po auf den Weg nach England gebracht hatte.
Clematis lanuginosa. Campanula punctata. Abelia rupestris. Clerodendrum indicum.
Und sein ganzer Stolz: Fortunella, wie er die cum-quat getauft hatte.
Seitdem waren die Glaskästen für die Ableger, die die weite Reise in ihre neue Heimat antreten sollten, verwaist geblieben.
»Ja. Wozu auch«, murmelte Fortune dürr.
Shanghai im Winter war für einen Botaniker eine graue, fruchtlose Wüste.
Auch ohne Gauner an jeder Ecke.
Die beiden Kamelien in ihren Töpfen neben der Kiste schienen ihn mit ihrer ganzen kräftigen Pracht zu verhöhnen, wann immer sein Blick darauf fiel.
Von hellgelber Blüte die eine, goldgelb die andere – das hatte ihm der Händler versprochen, dem er die beiden in zähen Verhandlungen und für je fünf Dollar abgerungen hatte. Und sowohl der Wirt des Gasthauses hier als auch Wang hatten ihm bestätigt, dass die Schriftzeichen auf den Papierstreifen in den Töpfen gelbe Blüten bedeuteten.
Gelbe Kamelien. Bislang ein Mythos; wer sie fand, wäre ein gemachter Mann.
Doch als sich die Knospen einige Tage darauf geöffnet hatten, war das einzig Gelbe daran das Staubgefäß gewesen. Weiß blühten sie, ganz gewöhnlich und wertlos.
Und natürlich war der Händler mit seinem Karren nirgendwo mehr aufzufinden gewesen.
Trotzdem hatte Fortune es nicht über sich gebracht, die Pflanzen wegzuwerfen; es war ja nicht die Schuld der Kamelien, dass er so leichtgläubig einem Betrüger auf den Leim gegangen war.
Als hätte ihn eine grandiose Idee überfallen, fuhr Wang hoch wie ein Schachtelteufel.
»Fu-Chung braucht Heiterkeit! Spaß! Hat Zeit jetzt in Shanghai! Fu-Chung und Wang gehen aus! Gehen spielen. Mahjong. Fan Tan. Geht alles hier. Fu-Chung heißt doch wie Glück – und wenn gut geht, sind Wang und Fu-Chung dann reiche Männer!«
Irritiert runzelte Fortune die Stirn. »Ich spiele nicht um Geld.«
»Dann entspannt Fu-Chung mit Wang. Gehen jeder Pfeife Opium rauchen. Oder gehen trinken viel Gelber Wein. Schöner Tag für Fu-Chung und Wang, ja?«
Fortune schüttelte den Kopf; er war niemand, der sich gern berauschte.
Mit einem listigen Ausdruck auf dem Gesicht legte Wang den Kopf schräg.
»Singsong-Mädchen?«
Fortune hatte einige Zeit gebraucht, bis er begriffen hatte, dass die Gesangsdarbietungen der stark geschminkten Mädchen in farbenfrohen Seidengewändern nur einen Teil ihrer Dienstleistungen ausmachten. Nicht immer, aber häufig.
Unwillkürlich schoss ihm das Blut ins Gesicht. »Ich bin ein verheirateter Mann!«
Wang gab ein meckerndes Lachen von sich. »Häuser von Singsong leer, wenn nur junge Gesellen hingehen! Fu-Chung doch lange nicht mehr …«
Seine Geste, so unmissverständlich obszön wie wohl überall auf der Welt, ließ Fortune rasch die Augen abwenden.
»Frau von Fu-Chung weit, weit weg. Nicht sehen. Nicht fragen. Nicht wissen. Und Fu-Chung schon Singsong-Mädchen vergessen, bis wieder zu Hause.« Die Hitze in Fortunes Gesicht fühlte sich inzwischen mehr nach Verärgerung an.
»Nein, habe ich gesagt!«
Schnaufend warf Wang die Hände in die Luft. »Fein!«
Schwungvoll sprang er auf und klimperte großspurig mit einer Handvoll Münzen.
»Geht Wang alleine. Hat alleine Spaß! Kann Fu-Chung hier sitzen bleiben wie saurer Tropf.«
Er knallte die Tür hinter sich zu, dass der zerbrechliche Türrahmen klapperte. Der Luftzug, der dabei herüberwirbelte, ergriff die losen Papiere auf dem Tisch; mit gespreizten Fingern und Ellbogen warf Fortune sich schützend darüber, bis sich die Luft wieder beruhigt hatte.
»Sauertopf«, sagte er in die Stille hinein. »Es heißt Sauertopf.«
Zwischen seinen Fingern leuchtete es farbig hervor, und behutsam löste er die Hände von den Papierbögen.
Ein Porzellanmaler hier in Shanghai hatte die Skizzen für ein paar Käsch angefertigt, als Fortune sich in dessen Laden nach den Blumen auf den Vasen, Schüsseln und Kannen erkundigt hatte.
Paeonia suffruticosa. Strauchpfingstrosen. Päonien.