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Das starke Holz, die schweren Eisenbeschläge und das Türchen über einem Guckloch ließen Rückschlüsse darauf zu, was für eine Stadt Shanghai war. Dass sich hinter diesem Tor Wertvolles verbarg. Fortune hatte die Hand schon gehoben, um anzuklopfen, als er auf der anderen Seite ein Schaben, dann ein metallisches Klicken vernahm.

Wie ein Riegel, der zugeschoben wurde.

Er pochte gegen das Holz und lauschte.

Nichts.

Er klopfte kräftiger an das Tor.

»Hallo? Ich komme wegen der Blumen. Päonien, moutan. Hallo? mudan

Alles blieb still.

Er presste das Gesicht an die Ritze zwischen den beiden Türflügeln, um vielleicht hineinspähen zu können. Er konnte nichts erkennen, der Spalt war zu schmal.

Der Lufthauch jedoch, der ihm entgegenstrich, brachte die Schwere nasser Erde mit sich. Die Frische grüner Blätter. Den Duft geöffneter Blüten. Nach Garten roch es; ein vertrauter, ein schmerzlich vermisster und ersehnter Geruch.

Mit der Faust hämmerte Fortune gegen das Holz.

Bis er begriff.

Noch bevor er Kinderfüße wegrennen hörte und schallendes Gelächter durch die Gasse fegte.

Ziellos ließ er sich wieder durch die Straßen der Stadt treiben.

Fortune wusste nicht, wo er gerade war und wie er zum Gasthaus zurückfinden sollte; es war ihm auch gleich. Hier draußen herumzulaufen, war immer noch besser, als dort in der düsteren Kammer zu hocken, durch die der Wind pfiff und abends oft genug die Kerze ausblies.

Er schlug den Kragen hoch und stopfte den Wollschal fester um den Hals. Seine dicke Jacke, die ihm zu Hause selbst bei scharfem Frost gute Dienste geleistet hatte, nützte ihm hier in Shanghai wenig. In dieser unbarmherzigen Kälte, die durch Mark und Bein drang. In diesem feuchten und salzigen Wind, der ihm ins Gesicht biss und in die Augen stach, bis sie tränten. Unter dem Hut waren seine Ohren jetzt schon Eisklumpen, die abzubrechen drohten.

Selbst in der strengsten Winterkälte Englands hatte er nie so gefroren wie hier in Shanghai.

Eine graue Stadt war es, zumindest jetzt im Winter. Die Mauern der Häuser waren grau. Die Straßen. Die Kleidung der Menschen und sogar deren Gesichter; als ob die Geschäftigkeit, mit der sie sich durch ihre Stadt bewegten, ihr Blut nicht in Schwung bringen konnte.

Ein Grau, das dieser Tage noch trübseliger wirkte hinter dem leuchtenden Rot der Banner, deren Schriftzeichen Fortune an Tintenspritzer erinnerten, an Spinnenbeine und die Fährten von Wildtieren. Trostlos war die Stadt, trotz der roten Lampions, die überall hingen und das baldige Neujahrsfest der Chinesen ankündigten.

Weihnachten daheim hatte Fortune versäumt, ein Weihnachten mit Jane und den Kindern. Einen Silvesterabend, Johns ersten Geburtstag und den ersten Tag des neuen Jahres.

Seit sechs Monaten war er jetzt in China.

Kein vollkommener Misserfolg, er hatte das eine oder andere vorzuweisen. Aber noch lange nicht das, was er selbst sich erhofft hatte. Was die Society von ihm erwartete.

Sechs Monate blieben ihm noch, um all das zu finden, was er hier suchte.

Er trauerte den prächtigen Päonien nach, die sich vielleicht tatsächlich jenseits des Tores befunden hatten. So nah und doch unerreichbar; nicht einmal einen flüchtigen Blick darauf hatte er erhaschen können.

Fortune gönnte den Gassenjungen das Geld; er hoffte, die paar Käsch würden ausreichen, damit sie sich die Bäuche mit Zuckerzeug vollschlagen konnten, wenigstens an diesem einen Tag.

Auf seinen Streifzügen jenseits der Stadtmauern hatte er viele Grabhügel gesehen, manchmal so weit das Auge reichte. Wellenhügel und Täler in einem Meer aus Gras, das der Wind durchwirbelte. Über dem die weißen Blüten von Anemone hupehensis wissend nickten wie Schicksalsgöttinnen, selbst jetzt, im Winter noch.

Eine Landschaft für sich, zwischen zeitloser Ewigkeit und dem Wimpernschlag eines Menschenlebens.

Einzelne Holzsärge warteten darauf, bestattet zu werden, von fürsorglicher Hand mit Stroh oder Flechtmatten umwickelt, um sie bis dahin vor der Witterung zu schützen. Oft genug jedoch hatte Fortune auch vergessene Särge gesehen, von der Zeit und den Elementen zersetzt, die menschlichen Überreste schonungslos preisgegeben.

Nichts hatte Fortune so getroffen wie die Kindersärge: schockierend kleine Holzkisten, von denen er viele gesehen hatte.

Viel zu viele.

Er konnte sich nicht vorstellen, wie man einen solchen Schicksalsschlag überwand. Immer wieder musste er an seine eigenen Kinder denken. An ihre warmen, zartgliedrigen Körper, so stark selbst bei Koliken, einem leichten Fieber, einem Schnupfen. Und doch so verwundbar. Sollte eines von ihnen Schaden nehmen, oder gar Jane, würde er erst Monate später in einem Brief davon erfahren.

Ohne etwas tun zu können, ohne Abschied zu nehmen, Welten entfernt.

Gedanken, die seine düstere Stimmung weiter verdunkelten, schwer wie Blei, mit einem Geschmack von Asche.

Während Wang irgendwo in dieser grauen Stadt den ausgelassenen Lebemann gab. Sich an Opium und Wein berauschte, sich Glücksspiel und Fleischeslust hingab.

Von seinem Geld.

Vom Geld der Society, korrigierte er sich sogleich. Das Wang im Augenblick fürs Nichtstun einstrich, weil auch er zum ersten Mal in Shanghai war und die Stadt ebenso wenig kannte wie die Sprache, die völlig anders war als in den Regionen weiter südlich.

Wang war ihm in Shanghai zu nichts nütze. In Shanghai verschwendete Fortune nur wertvolle Zeit und kostbares Geld.

Im Strömen und Strudeln der Menschenleiber tat sich weiter vorn eine Lücke auf, riss Fortune aus seinem dumpfen Brüten. Wie angewurzelt blieb er stehen, stutzte und starrte.

Ein Lastenträger prallte gegen ihn und überschüttete ihn mit einem energischen Wortschwall, der selbst in dieser fremden Sprache noch höchst unflätig klang. Fortune machte einen langen Hals, stürzte dann vorwärts.

Plötzlich hatte sein Weg ein Ziel. Er drängte sich durch die Massen und schlug einen Haken um ein Fuhrwerk herum. Einem Fitzelchen von etwas Vertrautem jagte er nach, in dieser fremden, unfreundlichen Stadt. Ohne sicher sein zu können, ob es nicht vielleicht zu Staub zerfiel, sobald er es in den Händen hielt.

Sofern er es überhaupt erreichte.

Unnachgiebig drängelte er sich in diesem trägen Pulk aus Leibern vorwärts. Nichts schien in diesem Augenblick wichtiger, als Gewissheit zu bekommen. Und viel zu langsam, zu mühselig kam er voran. Als versuchte er, einen Wasserfall hinaufzuschwimmen. Einem Lastkarren wich er aus und schob kurzerhand einen Mann beiseite, der mit einem Sack quer über den Schultern nicht vom Fleck zu kommen schien.

Wie viele Mädchen mit einem Schwert auf dem Rücken konnte es in diesem Land wohl noch geben?

»Lian! Lian!«

Erst als er über dem Brausen der Stadt seine eigene Stimme hörte, wurde ihm bewusst, dass er ihren Namen rief.

18

Dieser Ausruf konnte nicht mir gelten.

Niemand in dieser Stadt kannte meinen Namen.

Niemand hatte einen Grund, mich bei diesem Namen zu rufen.

Ein verbreiteter Name war es noch dazu.

Unter den jianghu war ich immer nur Mei-mei gewesen: Kleine Schwester.

Wie sie alle untereinander Älterer Bruder, Jüngerer Sohn, Dritte Schwester, Zweiter Onkel gewesen waren.

Ein Schutz vor der Vergangenheit, die jeder von ihnen hinter sich gelassen hatte.

Vor einem Morgen, an dem einer von ihnen vielleicht in die Hände der Behörden fiel. In die Mühlen jener Gesetze geriet, denen wir nicht mehr folgten.

Die Männerstimme blieb hartnäckig, kam näher. Fragend klang sie und dringlich, und jetzt konnte ich auch den fremden Zungenschlag heraushören.

Ich warf einen Blick zurück.

Ein Riese, der durch einen aufgewühlten Fluss von Menschen ruderte, die alle flinker und wendiger waren als er, seine Augen unter dem formlosen Hut unverwandt auf mich geheftet.

Xingyun. Fortune.

Ich hatte keinen Grund, fortzulaufen, also blieb ich stehen und drehte mich um, ein Freudenfünkchen irgendwo in meinem Bauch.