Ich hatte nicht oft an ihn gedacht. Wozu auch, ich würde ihn ja doch nicht wiedersehen. Nur manchmal, wenn mir irgendwo eine besonders prächtige Blüte ins Auge sprang, dachte ich noch an ihn. An diesen Mann aus einem fernen Land, der Blumen und Blätter mit einer Leidenschaft sammelte wie andere Menschen Juwelen.
Wenn ich im Geiste die Worte übte, die ich von ihm gelernt hatte.
Botanik. Tausendblütenstrauch. Anemone. Natur. Wunder. Seele.
Dann erlaubte ich mir die Erinnerung an jene Tage in Chusan, die so merkwürdig, so besonders gewesen waren. Selbst für jemanden wie mich, der schon viel gesehen und erlebt hatte.
Nur für kurze Augenblicke gestand ich mir diese Erinnerungen zu – als müsste ich fürchten, sie abzunutzen und irgendwann zu verlieren, holte ich sie zu oft aus meinem Gedächtnis hervor.
Von Menschenleibern umspült, standen wir uns jetzt doch wieder gegenüber. Zwischen uns das Staunen, dass sich unsere Wege einmal mehr gekreuzt hatten.
Als befänden wir uns beide auf der Suche. Jeder auf seine Weise nach etwas, das den einen wie den anderen stets zur selben Zeit an denselben Ort zog.
Seine Augen erinnerten mich an einen Bergsee, von Sonnenstrahlen überglänzt. Sein Gesicht war in Bewegung; ich sah ihm an, wie viele Fragen er hatte. Wie unbedingt er etwas sagen wollte und doch nicht die richtigen Worte fand. In keiner Sprache. Schließlich atmete er laut aus, wie ein Seufzen.
»Weißt du, wo man hier gut essen kann?«
Im Dunst von Fett, Fleisch, Reis und Gewürzen krampfte sich mein ausgehöhlter Magen zusammen; die aufgeheizte Luft in der Garküche durchglühte mir wohltuend das kalte Gesicht.
Die Welle an Geräuschen, die uns entgegenschlug – Stimmen, Klappern, Klirren, Lachen, Schlürfen, Schmatzen –, brach jäh ab.
Alle Augen richteten sich auf uns. Neugierig, irgendwo zwischen Respekt, Argwohn und Spott.
Fortune, der sich unter der Tür ducken musste, schien sich nicht daran zu stören. Mir war es unangenehm; ich zog es vor, unsichtbar zu sein. Ich wickelte mir den Schal erst vom Kopf, als wir uns gesetzt hatten und die Stimmen wieder anhoben, wie das dunkle Surren von Fliegen an einem heißen Sommertag.
Auch Fortune hatte seinen Hut abgenommen; wo seine Haare nicht plattgedrückt waren, standen sie widerborstig ab. Müde sah er aus, wie ausgelaugt.
Er gehörte nicht in eine Stadt wie Shanghai. Er gehörte nach draußen, in die Wälder und auf die Wiesen. Unter einen freien Himmel.
Der Hocker war viel zu niedrig für ihn; seine Knie ragten über die Tischkante. Trotzdem war er hochgewachsen genug, um sich mit gekrümmtem Rücken über seine Reisschale zu beugen und mit den Stäbchen unbeholfen in seinem ba bao la jiang herumzufischen.
Die Männer am Tisch neben uns stießen sich feixend an.
Fortune konzentrierte sich nur halb auf das Esswerkzeug, das ihm sperrig in der Hand lag. Immer wieder wanderte sein Blick zu mir herüber. Seine Stirn legte sich dabei in Falten, um seinen Mund zuckte es.
Ich konnte sehen, wie er einen Anfangsfaden für all die Fragen in seinem Kopf suchte, während ich mich hungrig über den Reis, die Stücke von Garnelen, Huhn, Schwein und Gemüse hermachte.
»Habe ich das richtig verstanden«, tastete er sich an einem ersten dünnen Fädchen entlang, »du ziehst allein hier durch die Lande?«
Ich nickte mit vollem Mund.
»Und wovon lebst du?«
Ich hielt im Kauen inne.
Vermutlich sah man mir an, wie hart die letzte Zeit für mich gewesen war. Hatte er deshalb vorgeschlagen, in eine Garküche zu gehen, und darauf bestanden, alles zu bezahlen?
Ich kannte verschiedene Arten von Almosen. Von Geschenken. Von Gesten der Großzügigkeit, der Dankbarkeit und der Freundlichkeit.
Bei ihm war ich mir nicht sicher, wie diese Essenseinladung gemeint war.
Das Stück Garnele in meinem Mund schmeckte plötzlich bitter, und ich schluckte es hastig hinunter.
»Was die Leute geben. Dach über Kopf. Essen. Kleider.«
Es war die Wahrheit, doch in seiner Sprache klang es falsch. Verstärkte den bitteren Geschmack auf meiner Zunge, den die Garnele hinterlassen hatte.
»Ich bringe Glück«, fügte ich deshalb hastig hinzu. »Glück und Segen.«
Scharf klang meine Stimme dabei, so scharf wie die Soße von ba bao la jiang. Als müsste ich mich vor ihm rechtfertigen.
Wer aus dem feinmaschigen Netz von Familie und Stand fiel, wurde zu einem Geist, von dem man nicht wusste, ob er gut war oder böse. Eine Mahlzeit konnte einen solchen Geist milde stimmen. Ein Lager für die Nacht würde dafür sorgen, dass ein jianghu zur Stelle war, bedurfte man einmal seiner Hilfe. Ein Geschenk sicherte den Beistand der Mächte, mit denen wir im Bunde waren.
Ein weit verbreiteter Aberglaube auf dem Land wie in den Städten, der uns zugutekam.
In früheren Wintern war mir Shanghai trotz der Kälte eine Zuflucht gewesen. Einmal hatte ich sogar ein paar Nächte im Haus einer reichen Kaufmannsfamilie verbracht, die sich für das neue Jahr noch bessere Geschäfte versprach, wenn sie einer jianghu eine Kammer mit einem richtigen Bett und einem Ofen zur Verfügung stellte und sie reich bewirtete.
Jetzt erkannte ich Shanghai nicht wieder.
Die Leute hier schienen den Brauch vergessen zu haben, einer jianghu eine Mahlzeit und ein Obdach anzubieten. Zu beschäftigt waren sie, Waren aus allen Ecken der Provinz und darüber hinaus herbeizuschaffen und in klingende Münze zu verwandeln. Geld und die Gier danach waren die neuen Herren der Stadt, die mit den Schiffen aus dem Westen Einzug gehalten hatten.
In Shanghai hatte ich das erste Mal seit Langem wieder Hunger gelitten. In zugigen Hauseingängen und heimlich in schmutzigen Ställen geschlafen. Noch war ich zu stolz, als dass ich auf der Straße gebettelt hätte. Zu starrsinnig, um klein beizugeben und weiterzuziehen.
Ich wich Fortunes Augen aus. Diesen Fuchsaugen, die mich begutachteten wie ein unbekanntes Gewächs.
»Was bist du?«
Nicht wer. Sondern was.
Als müsste er sich versichern, dass ich ein Mensch aus Fleisch und Blut war und kein übernatürliches Wesen.
Allmählich begann ich zu ahnen, dass er jenseits seiner Gräser und Blumen doch ein wenig von diesem Land gesehen haben musste und nun versuchte, sich einen Reim auf mich zu machen.
»jianghu.«
Sein Mund wiederholte stumm die Laute.
»Flüsse und … Flüsse und Seen?«, übersetzte er unsicher.
Ich nickte.
»Was ist damit gemeint?«
Nachdenklich knabberte ich an einem Bambusschössling zwischen meinen Stäbchen. Ich wollte Zeit gewinnen und suchte nach den richtigen Worten.
»Keine Wurzeln«, begann ich schließlich. »Immer … unterwegs.«
Meine Stäbchen zeichneten eine Straße in die Luft, die bis zum Horizont führte.
»jianghu meint … Akrobaten. Gaukler.«
Jongleure. Reisende Musikanten und Sänger. Wunderheiler und fliegende Händler. Magier.
»Diebe und Wegelagerer. Bettler. Und solche jianghu wie mich. Kämpfer. Manche sind mal das eine, mal das andere. Viele mehreres zugleich.«
An dem Nachhall meiner Stimme in meinen Ohren, an der Art, wie Fortune seine Stirn fragend furchte, merkte ich, dass ich seine Sprache und meine durcheinandergewürfelt hatte.
Ich wusste nicht, wie viel er davon verstand, aber da waren noch so viele Worte mehr auf meiner Zunge.
»Eine alte Weise zu leben ist jianghu. Weit, weit zurück in der Zeit. Lange vor der ersten aller Kaiserdynastien, die das Reich unter der Herrschaft des Himmelssohns geeint hat. Vor der Zeit der Streitenden Reiche. Vor den Chroniken von Frühling und Herbst. Bevor die Große Mauer gebaut ist. jianghu waren schon da vor der Lehre des Dao. Bevor die des Buddha hierherkam, über Seidenwege und Jadestraßen. Vor den Schriften von Kung Fu Tse, die das Reich schmiedeten. In Form hämmerten.«